Ausstellungstipp: ILLUSION
Vor wenigen Tagen eröffnete eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, die das Thema der Illusion in der Kunst in einem sehr weit gefassten Sinn thematisiert, illustriert mit Werken verschiedenster Genres aus mehr als 600 Jahren, von Buchillustrationen des Mittelalters bis zu VR- und KI-Installationen.
Insofern die Kunst die Realität abzubilden versucht, zielt sie naturgemäß auf eine Täuschung ab, denn das Abbild ist eben nicht der abgebildete Gegenstand, genauso wie die Karte nicht das Gebiet ist. Je ähnlicher ein Bild erscheint, desto mehr täuscht es, und nicht umsonst spricht man – durchaus bewundernd – von einer täuschenden Ähnlichkeit.
Die Ausstellung ILLUSION, die noch bis zum 6. April 2025 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist, beginnt naheliegenderweise mit der von Plinius dem Älteren in der Naturalis historia kolportierten Geschichte vom Wettstreit der griechischen Maler Zeuxis und Parrhasios, die um das Jahr 400 vor unserer Zeitrechnung in Athen wirkten: Zeuxis hatte Weintrauben so lebensecht gemalt, dass Vögel an ihnen zu picken versuchten. Parrhasios kündigte ein Bild an, mit dem er die Leistung seines Konkurrenten noch in den Schatten stellen wollte, und Zeuxis verlangte, dass endlich der Vorhang beiseite gezogen würde, der es verhüllte – aber der vermeintliche Vorhang war tatsächlich ein Teil des Gemäldes. So hatte Parrhasios nicht bloß Vögel, sondern sogar einen Menschen getäuscht.
Jeder Realismus ist anders als die Realität.
Peter Sager: Neue Formen des Realismus (1973)
Leon Battista Alberti schrieb 1435 in De pictura (Über die Malkunst), ein Bild sei wie ein „offenes Fenster“, durch das wir die Welt sehen. Dass diese Auffassung allzu naiv ist, hat René Magritte gezeigt, etwa in seinem Gemälde La condition humaine (1933): Vor einem Fenster steht eine Staffelei, und die Leinwand darauf bildet genau den Ausschnitt der Landschaft vor dem Fenster ab, den es selbst verdeckt. Zumindest ist es verführerisch, das zu glauben, denn die Anschlüsse zwischen Bild und Hintergrund passen perfekt, aber stimmt es überhaupt? Das Motiv des Bildes könnte frei erfunden sein und der gemalte Baum in Wirklichkeit ganz anders aussehen oder gar nicht existieren.
Eine Variante davon (La Clef des Champs, 1936) ist als Leihgabe aus Madrid in der Kunsthalle zu sehen: Wir blicken durch ein eingeschlagenes Fenster auf eine Landschaft, so scheint es auf den ersten Blick, doch die Glassplitter sind bemalt und waren offenbar Teil eines Bildes. Auf die vermeintlich durchsichtige Scheibe war die Aussicht gemalt, die wir durch ein echtes Fenster gesehen hätten. Aber auch das muss nicht stimmen, sind doch das Fenster, die bemalten Glassplitter und die Landschaft Teile von Magrittes Gemälde, dem keinerlei Wirklichkeit entsprechen muss.
Illusion – besser Anschein, Schein ist mein Lebensthema (…). Die Malerei beschäftigt sich wie keine andere Kunstart ausschließlich mit dem Schein (die Fotografie rechne ich selbstverständlich dazu).
Gerhard Richter: Notiz (1989)
Mit einer fotografischen Version dieses Motivs wird man bereits im Foyer begrüßt, wenn man das Hubertus-Wald-Forum durch den Seiteneingang der Kunsthalle betritt. Lars Eidingers großformatig geprintetes Foto (im Gegensatz zu allen anderen seiner Fotos, die in der Ausstellung zu sehen sind, ist es mit einer „richtigen“ Kamera statt mit dem Smartphone aufgenommen) zeigt eine Straße in Budapest – aber ein großer Teil der Straßenflucht ist tatsächlich ein auf eine Plane gedrucktes Bild, das einen Eindruck davon vermitteln soll, wie die Straße nach Abschluss der laufenden Bauarbeiten aussehen wird.
All diese Dinge [Theater, Malerei und Bildhauerei] sind nur in der Hinsicht teilweise wahr, wie sie teilweise falsch sind, und das allein trägt dazu bei, sie wahr zu machen, was in anderer Hinsicht falsch ist. Daher gelingt es ihnen gar nicht, das zu erreichen, was sie sein wollen und müssen, wenn sie davor zurückschrecken, falsch zu sein. (…) Wenn es also bei bestimmten Dingen von Nutzen ist, wenn sie irgendwie falsch sind, damit sie irgendwie wahr sein können, warum fürchten wir uns so vor allem Falschen und verlangen wir so sehr nach der Wahrheit als einem so großen Gute?
Augustinus: Soliloquia, 387
Die bildende Kunst kann auch dort, wo sie sich gegenständlich und naturalistisch gibt, nicht nur die Welt zeigen, wie sie ist oder wie sie jemandem erscheint, sondern ebenso auch mögliche oder unmögliche Welten. Nachdem die europäische Kunst die Zentralperspektive (wieder-) entdeckt hatte, erlaubten sich die Maler immer kühnere Architekturansichten, wofür die holländischen Kircheninterieurs des 17. Jahrhunderts ein gutes Beispiel sind. In der Sammlung der Kunsthalle gibt es eine ansehnliche Zahl von Gemälden dieses Genres (achten Sie einmal darauf: In fast jedem dieser Bilder findet man einen Hund), und auch in ILLUSION sind welche vertreten. Im Gegensatz zu den schlichten Kirchen der protestantischen Niederlande schwelgt die katholische Welt des Barock in Visionen des Himmelreichs, und auch diese präsentiert die Ausstellung.
Werden die Gesetze der Perspektive aber erst einmal beherrscht, können sie auch zur Darstellung architektonischer Visionen genutzt werden. Die Kunsthalle zeigt unter anderem Blätter aus Piranesis Carceri-Zyklus neben M. C. Eschers mit inkompatiblen Perspektiven spielendes Relativität und ganz reale Rolltreppen, fotografiert von Lars Eidinger, die das Berliner KDW wie einen der phantastischen Kerker Piranesis erscheinen lassen.
Disneyland existiert, um das „reale“ Land, das „reale“ Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren (…): Disneyland wird als Imaginäres hingestellt, um den Anschein zu erwecken alles übrige sei real. Los Angeles und ganz Amerika, die es umgeben, sind bereits nicht mehr real, sondern gehören der Ordnung des Hyperrealen und der Simulation an.
Jean Baudrillard: Agonie des Realen (1978)
Keine Ausstellung zum Thema Illusion käme an der Technik der Augentäuschung (Trompe-l’œil) vorbei, deren Höhepunkt im Barock lag. Ein herausragendes Beispiel ist Cornelis Gijsbrechts’ Rückseite eines Gemäldes (1670): Man sieht die Rückseite des Rahmens, auf den eine Leinwand gespannt und mit Nägeln fixiert ist, sowie den eigentlichen Bilderrahmen von der nur grob geglätteten Rückseite. Auf die Leinwand ist ein Zettel mit einer Nummer mit Siegellack geklebt. Man wäre versucht, das Bild umzudrehen, aber da die „Rückseite“ auf eine ungerahmte Leinwand gemalt ist, sähe man dann nur deren tatsächliche Rückseite.
Das Thema der Illusion haben die Ausstellungsmacher Sandra Pisot und Johanna Hornauer sehr weit gefasst. Weitere Abteilungen der Ausstellung behandeln die Motive der Maske (die allegorisch für die Täuschung stand), des Fensters (wie oben erwähnt Leon Battista Albertis Metapher für die Malerei) und der Verwandlung, wofür durch Ovids Metamorphosen inspirierte Gemälde stehen.
Den Abschluss bilden Werke aus den Bereichen Virtual Reality und Künstlicher Intelligenz. Mit einer VR-Brille kann man eine virtuelle Version des Ausstellungsraums erforschen und in die (nur in der Brille sichtbaren) Bilder eintreten und mit den Motiven interagieren. Oder man spricht mit einer optisch an den Computer HAL aus 2001 – Odyssee im Weltraum erinnernden KI, die Verschwörungserzählungen verbreitet und deren konfrontative Haltung vielleicht nicht jedermanns Sache ist.
Zu der von Sandra Pisot und Johanna Hornauer kuratierten Ausstellung ist ein bei Hatje Cantz verlegter großformatiger Katalog mit 320 Seiten in einer erwartbar hohen inhaltlichen und drucktechnischen Qualität erschienen, der im Museumsshop für 35 Euro erhältlich ist, 19 Euro günstiger als im Buchhandel.
Im DOCMAshop finden Sie alle Infos zum aktuellen Heft: Das ausführliche Inhaltsverzeichnis sowie einige Seiten als Kostprobe.