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Angriff auf die Systemkameras: 
Ist das iPhone 12 die neue Leica?

Spätestens mit dem neuen iPhone 12 Pro Max nimmt Apple den Markt der Systemkameras ins Visier. Steht ein Umbruch vor der Tür, wie der vor rund 100 Jahren, als Leica mit der Erfindung des Kleinbildfilms die professionelle Fotografie revolutionierte?

In ein paar Tagen gibt es Apples iPhone 12 Pro Max im Handel. Das Gerät setzt vermutlich den nächsten Goldstandard in Sachen Mobil-Fotografie. Herzstück der Fotofunktion ist ein neuer Weitwinkel-Sensor mit 1,7μm Pixelgröße bei rund 1/1,7 Zoll Bildformat. Er wird bei gleicher Auflösung wie die 1/2,55 Zoll-Sensoren in den andern iPhones der 12er-Serie erheblich bessere Fotos bei schlechten Lichtverhältnissen produzieren. Das ist eine gute Nachricht für alle Smart-Fotografen, denn die bescheidenen Bildergebnisse bei schlechtem Licht sind bisher eines der zentralen KO-Kriterien für die Mobil-Fotografie.

Montage. iPhone 12
Montage: Christoph Künne

iPhone 12 Pro Max: Kampfansage?

Es gibt kein offizielles Statement aus Cupertino, aber die Stoßrichtung der Telefonkamera-Entwicklung seit dem „doppeläugigen“ iPhone 7plus (2016) ist unübersehbar: Apple schießt sich mit jeder neuen iPhone-Generation präziser auf den traditionellen Kameramarkt ein. Dem Angriff längst zum Opfer gefallen sind die Spaß- und die Kompaktkameras. Nun geht es den Systemkameras an den Kragen.

Neu sind solche Verdrängungen auf dem Foto-Markt natürlich nicht. Man fühlt sich in mancher Hinsicht an die Erfolgsgeschichte der Leica in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erinnert.

Historisches Vorbild: Leica

Holen wir etwas aus: 1888 erfand Kodak den Rollfilm und führte mit den Box-Kameras das 6 mal 9 Zentimeter-Bildformat ein. Zuvor gab es nur Plattenkameras mit noch sperrigeren Bildgrößen.

Leica der soganannten "0-Serie" von 1923/24. iPhone 12
Leica der soganannten „0-Serie“ von 1923/24

Rund 30 Jahre später kam der Deutsche Feinmechaniker Oskar Barnack auf die Idee, 35-Millimeter-Filmmaterial aus Kinoproduktionen als Fotofilm im Format 24 mal 26 Millimeter umzunutzen – und miniaturisierte so die Fotografie erneut. Mit dem kleinen Film und der um diesen herum konstruierten Leica-Kamera wurde die Fotografie auf einen Schlag mobil. Zuvor musste man große und schwere Profi-Geräte einsetzen, um hochwertige Fotos zu machen. Jetzt versprach die Leica neben maximaler Reisetauglichkeit auch eine hohe Bildqualität. Die Leica wurde so innerhalb weniger Jahre zum Liebling einer künstlerischen und journalistischen Avantgarde – und blieb es fast ein halbes Jahrhundert lang.

Parallelen zum iPhone

Das erste iPhone 2007 mit 2 Megapixel Auflösung. iPhone 12
Das erste iPhone 2007 mit 2 Megapixel Auflösung

Das iPhone hat die Fotografie ab 2007 ebenfalls weiter miniaturisiert und damit noch mobiler gemacht. Zwar gab es auch schon vorher kleine Kameras, die man immer dabei haben konnte. Die Betonung liegt auf „konnte“. Mit dem iPhone wurde das Immer-dabei-Haben zur Realität. Neben der Foto- und Filmfunktion dient es gleichzeitig als Telefon, Fernseher, Zeitung, Fernschreiber und Internet-Terminal.

Seine Bildqualität blieb allerdings lange eher bescheiden. Schuld daran war vor allem der winzige Bildsensor.

Das neue iPhone 12 Pro Max bietet gemessen am Kleinbildstandard von 24 x 36 Millimetern etwa 1/25stel an Aufnahmefläche. Der Besitzer eines normalen iPhone 12 muss sogar nur mit 1/35stel auskommen. Am Rande bemerkt: Die in der iPhone 12 Pro-Serie ebenfalls verbauten Tele- und das Extemweitwinkel-Objektive haben Sensoren, die noch einmal rund 30 Prozent kleiner ausfallen. Damit ähneln sie jenen, die in den frühen iPhone-Modellen verbaut waren.

Die Technik wird also auch hier miniaturisiert, allerdings viel extremer als bei der letzten Format-Revolution vor 100 Jahren.

Vergleich Sensorgrößen. iPhone 12
Vergleich Sensorgrößen

Wie Bildqualität entsteht

Egal, in welchem Format man fotografiert, am Ende zählt nur die Bildqualität. Leica hat die Nachteile der kleinen Fläche durch die Entwicklung hochwertiger Objektive kompensiert. Bei einem Smartphone ist das keine ideale Lösungsstrategie. Schließich soll sein Gehäuse flach und leicht bleiben. Da stören allzu komplexe, abstehende Objektiv-Konstruktionen nur.

Die Lösung: Statt auf Mechanik setzt man auf Elektronik: Smartphones verfügen von Haus aus über einen leistungsfähigen Prozessor. Der kann im Nebenjob auch Verzerrungen, Unschärfe oder chromatische Aberrationen aus einem Foto heraus rechnen. Anschließend korrigiert er die Belichtung, passt Kontraste an, bringt flaue Farben zum Leuchten und erledigt vieles andere mehr, was sich der kreative Fotograf so wünscht. Angefangen beim Nachtbild vom Sternenhimmel über das Multi-Row-Panorama bis zur Belichtungsreihe. Gibt es mehrere Objektive mit jeweils eigenen Sensoren, erweitern sich die Möglichkeiten, die aus komplexen Bildverrechnungen entstehen können. Ein beliebtes Beispiel sind künstlich weichgezeichnete Hintergründe.

Angriff auf die Systemkameras: 
Ist das iPhone 12 die neue Leica?

Und das alles passiert für den Fotografen völlig automatisch, noch bevor er seine Fotos das erste Mal auf dem Display zu Gesicht bekommt. Anders ausgedrückt: Zwischen dem ursprünglichen „Pixelschrott“ des Minisensors und einem technisch nahezu perfekten Fotos liegen heute drei Stationen: Mehrere Sensoren, leistungsfähige Software und Rechenleistung.

Aktuell legen die Prozessoren noch jedes Jahr eine Schippe an Leistungsfähigkeit drauf. Foto-Software setzt seit geraumer Zeit auf Künstliche Intelligenz. Und mit den neuen LIDAR-Sensoren kommen weitere Informationen ins Bild, die zusätzliche Funktionen erwarten lassen.

Promo-Bild von Apple für das iPhone 12
Promo-Bild von Apple für das iPhone 12

Das Ergebnis sind Smartphone-Fotos, die immer besser werden und längst ihre Vorgänger aus analogen Kleinbildkameras überholt haben.

Inzwischen sind die Ergebnisse derart interessant, dass sich klassische Digitalkamera-Fotografen schon darüber beschweren, denn ihre Geräte beherrschen solche Kunststücke (noch) nicht.

Grenzen der Qualität

Doch so schön die mobile Fotowelt auch sein könnte, sie kämpft immer noch mit einigen Problemen: Was auf den Displays der Smartphones gut aussehen mag und auch in sozialen Medien überzeugt, zeigt beim Hineinzoomen oft störende Defizite: Grobe Pixel bei höheren Empfindlichkeiten, mangelnde Schärfe durch Verwacklung, künstlich wirkende Farben, beschränkte Zoom-Fähigkeiten und wenig Spielraum für den Beschnitt eines Motivs. Und wenn man die Bilder dann etwas größer ausdruckt? Oder sie einer ernsthaften Bearbeitung in Photoshop aussetzt?

Mit der für Profis gewohnten Qualität von Vollformat-Dateien hat das noch nicht viel zu tun. Aber diese neue Form der Fotografie bewegt sich ja auch auf einem technisch völlig anderen Level, und wenn sie noch kein gleichwertiger Ersatz ist, dann doch vielleicht eine spannende Ergänzung.

Und nun?

Wann genau und inwieweit man heute mit einem Smartphone eine richtige Kamera ersetzen kann, ist eine komplexe und vielschichtige Fragestellung, der wir auf den Grund gehen wollen. Vielleicht haben sich einige Defizite mit dem neuen Apple iPhone 12 pro Max bereits erledigt. Vielleicht kann man mit kleinen Tricks andere Defizite ausgleichen. Wir werden es herausfinden.

Seit heute liegt unsere iPhone-Bestellung bei Apple vor, damit wir die aktuellste Generation der mobilen Fotografie im Praxiseinsatz testen können. Über unsere Erlebnisse und Erkenntnisse halten wir Sie auf docma.info und in der kostenlosen DOCMAtischen Depesche natürlich auf dem Laufenden.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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