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Alternative Fakten und Horror-Clowns

Alternative Fakten
Ausgangsfoto: Gage Skidmore Wikipedia / Grafik: Doc Baumann

Alle Welt reagiert mit einer Mischung aus Spott und Entsetzen auf die neueste US-Sprachregelung, plumpe Lügen als Aussagen über sogenannte alternative Fakten zu verkaufen. Exakte Analysen, warum dieser Begriff so gefährlich ist, finden sich dagegen kaum. Doc Baumann geht das Problem an.

Donald Trump und seine Sprecher/innen halten es offenbar eher mit Tolstoi als mit Mark Twain: Tolstoi schrieb 1903 in seinen Tagebüchern: „Es gibt keine Fakten. Es gibt nur unsere Wahrnehmung davon.“ Mark Twain dagegen war der Ansicht: „Man muss die Fakten kennen, bevor man sie verdrehen kann.“ Was voraussetzt, dass es sie gibt.

Nach ausgiebiger, philosophischer Lektüre ist mir klar, warum sich nahezu alle Kommentatoren darauf beschränken, den offiziellen Sprachgebrauch der neuen US-Regierung zu verspotten und die Aussage von Trumps Beraterin Kellyanne Conway mit ähnlichen Worten zurückzuweisen wie NBC-Moderator Chuck Todd: „Alternative Fakten sind keine Fakten, sondern Lügen.“ Ist es so einfach?


Alternative Fakten: Wie alles anfing


Was war geschehen? Nach seiner Amtseinführung hatte der frischgebackene Präsident von der gewaltigen Menge der Besucher geschwärmt: „Ehrlich, es sah aus wie anderthalb Millionen Menschen. (…) Sie verteilten sich über die ganze Strecke bis zum Washington Monument.“

Bleiben wir also exakt: Trump hat zunächst nicht behauptet, es seien anderthalb Millionen Teilnehmer gewesen, sondern es habe für ihn so ausgesehen. Wer je auf einer Großveranstaltung war und versucht hat, die Zahl der Menschen zu schätzen, weiß, dass das praktisch unmöglich ist. Aber gönnen wir ihm diesen subjektiven Eindruck.

Das Recherche-Team der New York Times hat die Aussage überprüft. Anhand von Luftaufnahmen ließ sich beweisen, dass die Menge nicht bis zum Washington Monument reichte. Und ein englischer Experte für die Organisation und Einschätzung von Massenveranstaltungen kam zu dem Ergebnis, es sei etwa ein Drittel der Zuschauermenge gewesen von der bei Obamas Amtseinführung 2009.

Trump kann nicht einmal bei völlig nebensächlichen Ereignissen die Wahrheit sagen. Am Anfang der Zeremonie habe es ein paar Regentropfen gegeben, aber gleich zu Beginn seiner Rede seien die Wolken abgezogen. „Es hörte sofort auf und wurde sonnig. Und als ich fertig war und wegging, begann es zu gießen.“ In schlechten Filmen ist das so: Der Regen hört auf, Sonnenstrahlen brechen hervor, die Liebenden fallen sich in die Arme. Doch was fanden die NY-Times-Rechercheure heraus? Als Trump seine Rede begann, fing es an, leicht zu regnen. Das ging 18 Minuten lang so weiter, auch nachdem er zu Ende gekommen war.

Weitere Lügen-Beispiele finden Sie hier; die Faktencheck-Website Politifact hat berechnet, dass nur 16% von Trumps Aussagen wahr oder fast wahr sind.

Der Rest der Geschichte ist bekannt: Trumps Pressesprecher Sean Spicer machte gleich bei seiner ersten Pressekonferenz am 21.1.2017 aus dem subjektiven Eindruck seines Chefs eine definitive Tatsachen-Aussage: „Dies war weltweit die größte Teilnehmerzahl, die es jemals bei einer Amtseinführung gegeben hat.“ Falsch, siehe oben. Auch die Zahl der Fernsehzuschauer war geringer als bei Obama. Und die Behauptung über die Anzahl der Fahrgäste der Washingtoner öffentlichen Verkehrsmittel (420.000) war ebenfalls aus der Luft gegriffen – tatsächlich waren es 570.557 (bei Obama 2013 dagegen 782.000).

Dann folgten Beschimpfungen der Pressevertreter und Drohungen gegen die Medien. Dem Ganzen die Krone setze aber Trumps Beraterin Conway auf, als sie später nachschob, Spicer habe nur alternative Fakten präsentiert.


Was sind Fakten?


Als ich ihre Ansprache im Fernsehen hörte, war ich zunächst nur erstaunt. Konnte sie das wirklich gesagt haben? Dann musste ich laut lachen. Und anschließend hatte ich ein bisschen (aber wirklich nur ein bisschen) Mitleid und dachte mir: Diese armen Typen! Gerade mal angefangen mit der Arbeit, und schon müssen sie sich stellvertretend für Boss Dagobert vor der ganzen Welt lächerlich machen. Und sie wissen, dass sie noch vier Jahre vor sich haben. Da werden wir sicherlich noch eine Menge kreativer Wortschöpfungen zu hören kriegen.

Aber was sind nun eigentlich „alternative Fakten“ – beziehungsweise: Was könnte damit gemeint sein? Beginnen wir mit den nicht-alternativen. Eine vergleichsweise einfach nachvollziehbare Definition von „Tatsache“ gibt Kirchner in seinem „Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe“ von 1907: „Tatsache (res facti) heißt alles Vorhandene oder Geschehende, das durch äußere oder innere Wahrnehmungen erfaßt wird. Tatsachen können nur anerkannt oder verworfen werden; dem Streit unterliegen sie selbst nicht; nur darüber kann Zweifel entstehen, ob sie geschehen seien oder nicht.“

Dem exakten Wortlaut würden nicht alle Philosophen zustimmen, aber im Großen und Ganzen wären sie damit einverstanden. Das Problem bei der Angelegenheit ist, dass keine völlige Einigkeit darüber besteht, ob Fakten/Tatsachen zur Welt gehören oder zum Reden über die Welt. So ist aus philosophischer Sicht auch der Begriff „Sachverhalt“ nicht gleichbedeutend mit „Tatsache“.

Interessant ist, dass das Wort „Tatsache“ erst Mitte des 18. Jahrhunderts „erfunden“ wurde, und zwar als Übersetzung aus dem englischen „matter of fact“ beziehungsweise dem lateinischen „res facti“. Lessing kritisierte diese Wortbildung des Theologen Spalding umgehend. Normalerwiese denkt man ja nicht darüber nach, warum dieser Begriff „Tat-Sache“ heißt. Egal, ob es um den wahren sprachlichen Satz geht „Auf der aktuellen DOCMA-Ausgabe ist eine Frau mit rauchendem Kopf abgebildet“ oder um das reale Objekt, das er zutreffend beschreibt – getan wird da ja nichts. „Tat-Sache“ setzt ursprünglich voraus, dass die Dinge der Welt nicht einfach vorhanden sind, sondern Ergebnis eines göttlichen Schöpfungsaktes.

Ich erspare es Ihnen hier, die vielen, ganz unterschiedlichen Definitionen von Faktum/Tatsache aufzulisten, beginnend mit Kant bis zu Wittgenstein oder Russell. Sie sind sich nicht einig darüber, ob der Begriff etwas bezeichnet, das es in der Welt gibt oder ob er Urteile über die Welt benennt. Letztlich ist das für unser Problem gleichgültig. Egal, ob eine Tatsache als „objektiv“ verwendet wird oder als Basis dafür, dass ein wahrer Satz wahr ist (Russell), sie ist nicht interpretationsabhängig. Sie gilt einfach. Außerdem ist sie zeitlos: Was gestern eine Tatsache war, ist es auch heute eine und wird es in 100 Jahren sein.


Alternative Fakten


Eine Tatsache kann nicht richtig oder falsch sein – sie ist definitionsgemäß immer richtig. Falsch sein können nur Aussagen über die Tatsache, die etwas anderes behaupten, als der Fall ist.

Empirisch richtig (und ein Rückzugsgefecht) ist Conways Aussage, dass die Publikumsgröße weder belegbar noch quantifizierbar sei. Sie ist das Eingeständnis, dass die Behauptung von Pressesprecher Spice, hier sei das größte Publikum aller Zeiten bei einer Amtseinführung zusammengekommen, keine empirische Basis besitzt.

Aber auch dann, wenn man eine gegebene Menge von Elementen nicht exakt quantifizieren kann, lassen sich Aussagen über ihr Verhältnis zu anderen Mengen machen. (Wir wissen nicht, wie viele Ameisen es auf der Erde gibt, aber wir können mit Sicherheit sagen, dass es mehr Sandkörner gibt als Ameisen.) Im Falle der Washingtoner Zusammenkunft existieren aber sogar Vergleichsfotos, Beförderungszahlen der Verkehrsbetriebe, Umfragen und so weiter. All diese empirischen Daten belegen, dass die Aussage über die größte Menschenmenge falsch war.

Dennoch ist die Kritik von Chuck Todd nicht ganz zutreffend, alternative Fakten seien keine Fakten, sondern Lügen/Unwahrheiten. Der erste Teil des Satzes stimmt. Der zweite nicht. Denn eine „alternative Tatsache“ ist keine Lüge, sondern ein selbstwidersprüchlicher Begriff und damit bedeutungslos. Exakt müsste es heißen: Eine Behauptung, etwas (ein Vorgang zum Beispiel) sei ein Faktum, die von den realen Geschehnissen/Sachverhalten abweicht, indem sie „alternative Fakten“ konstruiert, ist eine Lüge.

Nun könnten ganz Spitzfindige kommen und sagen, alternative Fakten seien Bestandteil eines Aussagensystems, das nicht der klassischen aristotelischen Logik folgt. Dort kann – nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten – eine Aussage nur wahr oder falsch sein, nichts anderes. Inzwischen gibt es aber nichtklassische Systeme, die mit einer dreiwertigen Logik operieren. Doch dieser Einwand würde sich nicht auf die Tatsachen selbst beziehen, sondern auf logische Schlussformen. Tatsachen liegen diesen zugrunde, und unabhängig davon, ob Urteile wahr, falsch oder unbestimmt sind, gilt ihre Wahrheit nur für den Fall, dass sie auf Tatsachen beruhen.

Zudem geht es bei diesen Systemen nicht um empirische Wahrheit, sondern um das Befolgen logischer Regeln. Im Grenzfall kann ein Satz logisch korrekt und doch empirisch verwirrend sein. (Konkretes Beispiel: Meine Frau fragte mich am Anfang unserer Beziehung, ob ich Bier trinke, und ich antwortete wahrheitsgemäß: „Ich trinke immer dann Bier, wenn ich mir im Fernsehen eine Fußballübertragung anschaue.“ Trinke ich also Bier? Nein, denn die Bedingung des Konditionalsatzes ist nicht gegeben, da ich keine Fußballspiele anschaue. Der Satz ist also wahr, lässt aber bei unzureichender Kenntnis der Ausgangsbedingungen keinen Schluss darauf zu, wie die ihm zugrundeliegende Frage beantwortet wird.)


Alternative Fakten, alternative fakes und Horror-Clowns


Fazit also: Die Begriffsbildung „alternative Fakten“ ist schlichter Blödsinn. Sie bezeichnet etwas, das es nicht geben kann, weil sich die beiden Glieder des Konstrukts gegenseitig ausschließen. Etwas ist der Fall oder nicht. Punkt. Es lohnt sich immer wieder, George Orwells Nachwort zu seinem Roman „1984“ zu lesen (der übrigens derzeit weit vorn in den US-Bestsellerlisten steht). Orwell befasst sich dort mit der Struktur der Sprache des fiktionalen, totalitären Staates Ozeanien, die Gegebenheiten mit neuen oder sinnverändernden Begriffen bezeichnet. Oft steht sogar das bisherige Gegenteil für einen Begriff.

Wir können die natürliche und soziale Welt nur begreifen, wenn unsere Vorstellungen von ihr zutreffen. Auch unsere Handlungen und Ziele funktionieren nur dann, wenn unsere Annahmen über sie richtig sind – wir also wahre Sätze über die verwenden. Behauptet der Wetterbericht, draußen seien 28 Grad, und Sie gehen – derzeit – ohne weitere Überprüfung der Aussage leicht bekleidet ins Freie und unternehmen in hartnäckigem Glauben an die Wahrheit der Nachricht einen langen Spaziergang, werden Sie sich eine Erkältung oder gar Lungenentzündung holen und im schlechtesten Fall erfrieren.

Dass es sehr viel kälter ist als erwartet, merken sie jedoch recht schnell, da Sie von diesem Sachverhalt dank Ihrer Sinneswahrnehmung unmittelbar Kenntnis nehmen. Dass eine vom Pressesprecher des Präsidenten offiziell verkündete Behauptung dagegen eine Lüge ist, auf die Sie gegebenenfalls gutgläubig hereinfallen und auf deren Basis falsche Entscheidungen treffen, merken Sie nicht so schnell – und ohne die Unterstützung von Experten und glaubwürdigen Medien vielleicht nie.

Der Versuch, einen Begriff wie „alternative Fakten“ einzuführen, würde also im Erfolgsfall jede sinnvolle Kommunikation ebenso unmöglich machen wie eine Orientierung in der Welt. Damit haben sich Trump und seine Öffentlichkeitsarbeiter bereits am allerersten Tag seiner Regierung selbst diskreditiert. Vielleicht haben wir alle Frau Conway auch nur falsch verstanden und sie hat eigentlich gesagt „alternative fakes“ – klingt ja so ähnlich …

Mit diesen Funktionsträgern ist es wie mit den vor einiger Zeit aufgetretenen Horror-Clowns: Sie rufen einerseits als Clowns Belustigung über ihr Auftreten und ihre Handlungen hervor, während sie andererseits ähnliches Entsetzen auslösen wie die Clowns-Figur Pennywise in Stephen Kings Roman „Es“. Zumindest im Fall der „alternativen Fakten“ werden Belustigung und Entsetzen durch dieselben Handlungen ausgelöst. Das unterscheidet sie von den sonstigen Dekreten des neuen Herrschers, an denen gar nichts belustigend ist, außer seiner erstaunlichen Mischung aus Hybris und Naivität.

 

Nachtrag

PS: Gerade ist mir noch eingefallen, dass Frau Conway vielleicht über Informationen verfügt, die uns nicht zugänglich sind. Unter bestimmten Voraussetzungen ist der Begriff „alternative Fakten“ nämlich doch sinnvoll: Dazu müssten mehrere Bedingungen gegeben sein: Die von manchen Quanten-Physikern vertretene Theorie des Multiversums müsste richtig sein. Demnach gäbe es zahllose Parallelwelten, und in einer davon kamen zu Trumps Amtseinführung tatsächlich anderthalb Millionen Menschen, und die Sonne brach hervor, als er seine Rede begann. Alle anderen kontrafaktischen Aussagen würden sich dann ebenfalls auf in Parallelwelten realisierte Zustände beziehen. Hinzu käme, dass sich mindestens zwei dieser Parallelwelten kurzfristig überlagert haben müssten, so dass Trump in unserem Universum mit ein paar hunderttausend Besuchern sich dennoch an anderthalb Millionen erinnern kann. Dann wäre der Begriff „alternative Fakten“ nur Ausdruck tieferen Wissens, das wir bescheiden akzeptieren müssten.

 

PPS: Nachdem kürzlich mindestens ein Leser meinen Kommentar „Ganzbreitbart News“ ernst genommen hat, muss ich wohl zu diesem Anhang ergänzen: Vorsicht – ironisch gemeint!

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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5 Kommentare

  1. Was ist daran so wichtig jedes Wort von Trump auf die Goldwaage zu legen? Mir ist das egal wie viel Leute bei der Amtseinführung waren und ob es geregnet hat. Fakt ist, er ist der neue Präsident und ist das nur, weil die Mehrheit des Volkes ihn gewählt hat.
    By the way…..wie viele falsche Tatsachen verbreiten denn unsere Politiker? Werden da nicht auch in regelmäßigen Abständen Zahlen so zurecht gebogen das sie ins Bild einer funktionierten Demokratie passen?

    PS: Wikipedia erklärt Ironie folgendermaßen: Die einfachste Form der rhetorischen Ironie besteht darin, das Gegenteil dessen zu sagen, was man meint.

    Grüßli

  2. @pixelator
    Auch das ist egal. Er ist der neue Präsident und fertig. Warum kann man nicht erst mal abwarten anstatt dauernd alles was er sagt, wie er schaut und sich bewegt oder mit den Augen zwinkert, in Frage zu stellen und IMMER etwas schlechtes darein projizieren.
    Das ist in meinen Augen die größte Hetzkampagne gegen EINE Person die ich miterlebe. Daran beteiligen tue ich mich nicht.
    Und nur weil uns die Medien tagtäglich Lügen auftischen glaube ich eh nicht alles. Man kann Niemanden mehr trauen.

    Grüßli

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