Altglas

Der Linsenkrieg oder Die Frühzeit der Objektiv-Entwicklung

Die Entwicklung von Linsen und Objektiven waren begleitet von zahllosen Konflikten wie dem „Linsenkrieg“, der um 1760 begann. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Grundlagen entwickelt, die heute noch in der optischen Industrie von Bedeutung sind.

Der Achromat

Da ist zum einen der Achromat, unzweifelhaft um 1730 von Chester Moor Hall erfunden. Interessant wird das Ganze, als ein gewisser John Dollond rund 30 Jahre später ein Patent darauf beanspruchte – und erhielt. Sein Schwiegersohn Jesse Ramsden, der das Patent als Mitgift erhalten hatte, führte 30 weitere Jahre einen erbitterten Rechtsstreit darum.

Das scheinen die historischen Fakten zu sein. Doch nun kommt ein Mitspieler aus der Jetztzeit hinzu: Roger Cicala, Gründer des US-amerikanischen Foto-Leihservice Lensrentals.com berichtet in seinen „Tear Downs“, also beim Zerlegen von Kameras und Objektiven in ihre Bestandteile, häufiger bei DPReview. Dort findet sich auch sein launig-pointiertes Essay über den oben skizzierten Linsen-Krieg. Unterhaltungswert und Schmunzel-Faktor sind hoch. Betrachtet man Einzelheiten seiner Darstellung, wirkt einiges salopp und manches fragwürdig.

Roger Cicalas Sicht der Dinge

In Roger Cicalas Darstellung wird John Dollond als „sleazy“ (schäbig, anrüchig, schmierig) eingeführt. Sein Handeln soll kommende Abgründe im bisher „sauberen“ Geschäft mit Optiken und Kameras andeuten. Schlagworte fallen, keines unzutreffend oder weit hergeholt: Copyright- und Patentverletzungen, Diebstahl geistigen Eigentums, Lügen und Intrigen.

Das History of Science Museum in Oxford bietet Einblick in den Verlauf der damaligen Diskussionen, die in Cicalas Darstellung einen anderen Beigeschmack bekommen. Cicala ist erpicht darauf („I am eager“), darüber zu berichten und die Deutungshoheit zu übernehmen.

Der Linsenkrieg oder Die Frühzeit der Objektiv-Entwicklung

Der Linsenkrieg: Zurück zu den Fakten

Um 1812 datiert die Erfindung der Wollaston-Landschaftslinse. Daraus entwickelte Charles Chevalier 1839 die „French Landscape Lens“, die Eigenschaften von Achromat (Vermeidung von chromatischen Aberrationen) und Meniskuslinse (Vergrößerungen) vereinte. Davon angestachelt stellte Josef Petzval 1840 sein nach ihm benanntes Porträt-Objektiv vor – die erste Optik der Geschichte auf Grundlage mathematischer Berechnungen. Von Petzval entwickelte Theoreme finden noch heute Anwendung im Objektivbau. Zuvor entstanden Optiken nach Erfahrungswerten von Linsenschleifern durch Versuch und Irrtum.

Neben den mathematischen Grundlagen der Berechnung war die Massenproduktion ein weiteres Novum des Petzval-Objektivs. Peter Friedrich von Voigtländer sollte es in Wien herstellen. Soweit zu den Fakten, über die in den meisten Quellen Einigkeit besteht.

Eine Frage der Darstellung

Cicalas Darstellungen sind unterhaltsamer, ebenso seine Skizze von Petzvals streitbarem Charakter. Seine Auslassungen zur Person des John Dollond wirken gewollt. Ein von Cicala verbal blumig ausgemalter Wettbewerb der „French Society for the Encouragement of National Industry“, an dem Petzval teilgenommen haben soll, wird in der Encyclopedia of the 19th Century Photography lediglich am Rande als vergleichende Analyse („comparative analysis“) erwähnt. Andere Quellen verzichten darauf.

Der Schweizer Fachpublizist Urs Tillmanns (Geschichte der Photographie, 1981) ebenfalls. Neben detaillierten Beschreibungen mit Quellenangaben laden die Reproduktionen alter Fotos in seinem Buch zu einer visuellen Zeitreise ein.

Der Linsenkrieg oder Die Frühzeit der Objektiv-Entwicklung

Cicalla-Krimi mit fiktiven Elementen

Letztlich bekommen Cicalas Ausführungen Krimiqualität. Voigtländer soll sich nach Braunschweig abgesetzt haben, weil Petzvals Patent dort keine Gültigkeit besaß. Ob Petzval ein Patent besaß, ist unbekannt, englische Quellen behaupten es gerne. Wikipedia will wissen, dass Petzval Voigtländer das Objektiv gegen eine Einmalzahlung von 2000 Gulden überließ. Dass der Firmensitz nach Braunschweig verlegte wurde, ist unstrittig. Deutschsprachige Quellen nennen eine Reihe nachvollziehbarer Gründe. Im weiteren Verlauf schmiert der Linsenkrieg bei Cicala komplett ab. Ein anderes von Petzval berechnetes Objektiv konnte nicht produziert werden, weil der Hersteller in Konkurs ging. Bei Petzval wurde eingebrochen und alle Berechnungen gestohlen. Voigtländer produzierte ein neues Petzval-Objektiv auf eigene Rechnung. Cicalas Darstellung ist nicht ganz falsch – nur die Jahreszahlen zeigen eine abweichende Reihenfolge und ergeben ein anderes Bild. Petzvals neuer Produzent ging erst nach einigen Jahren Pleite. Voigtländer produzierte nach alten vorhandenen Unterlagen ein weiteres Petzval-Objektiv und der Einbruch fand erst später statt.

Erkenntnis?

Knapp 200 Kommentare unter Cicalas Artikel spiegeln Begeisterung, hinterfragt wird allenfalls, ob Petzval gebürtiger Ungar oder der Slowake und die Schreibweise seines Vornamens korrekt ist. Bei genauerer Betrachtung des Artikels wirken einige Passagen salopp interpretiert und manche erweisen sich als unglaubwürdig.

An seriösen Quellen zur Geschichte der Fotografie besteht kein Mangel, viele sind öffentlich zugänglich. In anglo-amerikanischen und deutschsprachigen Veröffentlichungen lassen sich unterschiedliche Tendenzen erkennen. Doch selbst die renommierte Encyclopedia of the 19th Century Photography formuliert Ereignisse, soweit bekannt und belegbar, mit Understatement.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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