Interview: TRAUMA PORN

Der Berliner Künstler Boris Eldagsen befasst sich in einem experimentellen KI-Projekt mit dem Trauma als lang anhaltendem Schatten des Krieges. Er bedient sich dabei historischer Fotografien als Ausgangsmaterial und transformiert sie durch den Einsatz künstlicher Intelligenz, um visuelle Erzählungen zu schaffen. Christoph Künne hat mit ihm über die Hintergründe seiner Arbeit gesprochen. TRAUMA PORN taucht tief in die Psyche jener Individuen ein, die sich – ob freiwillig oder nicht – in das Getriebe eines totalitären Regimes verstrickt finden. Es rückt jene in den Fokus, die schreckliche Taten begehen, jene, die solche Regime ideologisch unterstützen, und jene, deren Schweigen oder Passivität die unterdrückenden Strukturen indirekt aufrechterhält. Diese Arbeit steht als bewegender Versuch da, durch die komplexen geistigen Landschaften einer durchschnittlichen Person zu navigieren, die in den Strudel ideologischer und physischer Gewalt gezogen wird und keinen Ausweg aus der Dunkelheit findet, die sie umgibt. Wir haben mit Boris Eldagsen darüber gesprochen, wie das Projekt entstand und welche Erkenntnisse es ihm gebracht hat. DOCMA: Wie kommt man auf die Idee für solch ein Projekt? Boris Eldagsen: Das Projekt entstand nach dem Tod meines Vaters vor über 20 Jahren. Er war als 16-Jähriger in den Krieg geschickt worden und hat mit uns als Familie nie über seine Kriegserlebnisse geredet. Erst auf dem Sterbebett begann er darüber zu sprechen. Nach seinem Tod habe ich eine Reihe von Bildern aus den 40er Jahren geerbt. Ich begann, weitere fotografische Kriegserinnerungen auf Flohmärkten zu erwerben, meist einfach Motive, die mich in irgendeiner Weise ansprachen. DOCMA: Das heißt, Du arbeitest seit über 20 Jahren an dem Projekt? Eldagsen: Nein, das war eher eine Art Freizeitbeschäftigung. Erst 2021, in der Coronazeit, wurde ich durch ein anderes Projekt wieder daran erinnert und habe die etwas in Vergessenheit geratene Sammlung neu entdeckt. Ich begann wieder zu sammeln, nun ernsthafter und systematischer auf Online-Plattformen wie Ebay. Mit dem Ukraine-Krieg erhielt das Thema Anfang 2022 neue Aktualität: Viele der Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg waren an den Orten entstanden, wo jetzt wieder gekämpft wurde. DOCMA: Ist es aufwendig und teuer, solche Bilder zu finden? Eldagsen: Die für dieses Projekt wirklich interessanten Motive sind online relativ schwierig zu finden, weil auf den Plattformen viele Suchbegriffe, die das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg oder die Nazizeit betreffen, gesperrt sind. Die Bilder selbst sind einzeln gar nicht so teuer. Meist kosten sie zwischen zwei und zehn Euro. Für besonders seltene Motive zahlt man aber auch erheblich mehr. Mein kostbarstes auf diese Art erworbenes Bild habe ich für etwa 60 Euro ersteigert. So altes Material hat für mein Projekt den Vorzug, dass es zu einem gewissen Grad „vogelfrei“ ist. Zwar besteht theoretisch oft noch ein Copyright, weil die Fotografen noch keine 70 Jahre verstorben sind, doch gibt es niemanden, der diese Rechte in der Praxis durchsetzt. DOCMA: Und dann kam die KI ins Spiel? Wie gehst Du bei dem Projekt vor? Eldagsen: Inzwischen habe ich einen ziemlich großen Bestand von Originalen. Seit es generative Bilder-KI gibt, nutze ich die Fotos und arbeite mit ihnen als Rohmaterial, um mit Hilfe von Blending-Techniken neue Motive zu erzeugen.Daraus ist ein Langzeitprojekt mit meinem Künstlerfreund Taniv Taolad aus Bangladesch geworden, bei dem wir einander Zugriff auf unsere Archive gewähren und mit dem Material des jeweils anderen weiterarbeiten. Ich habe ziemlich bald Schwerpunkte gesetzt und Strukturen herausgearbeitet. Unter anderem habe ich meinen Blickwinkel auf die Sichtweise meines Vaters fokussiert, also auf die des Einzelnen in der breiten Masse – und nicht auf die sonst verbreitete der politischen Entscheidungsträger. Als Struktur konnte ich das Projekt auf drei Themenfelder aufteilen: 1. Das totalitäre System, 2. der Krieg mit seinen Schäden und 3. das Schweigen danach. DOCMA: Woher stammt der Titel TRAUMA PORN? Eldagsen: Der Begriff entstand 2020 als Reaktion der Medien auf die „TikTok Holocaust Challenge“, die Menschen dazu brachte, sich wie gejagte Juden in Deutschland 1938 oder afroamerikanische Sklaven im 18. Jahrhundert zu verhalten. Ich habe das dann für mein Projekt adaptiert, denn die kriegsbedingten Traumata werden und wurden versteckt, wie ein Porno. Doch während sich das Trauma versteckt und sich nur durch die Auswirkungen auf die menschliche Psyche und den Körper zeigt, verlangt der Porno, dass man ihn sich ansieht – um eine Wirkung auf Körper und Geist zu erzielen. DOCMA: Was ist Dein Resümee jetzt, nach drei Ausstellungen? Eldagsen: Zum Beispiel, dass die klare Trennung von Originalfoto und Kunstwerk zentral ist. Die Ausstellung besteht zur Hälfte aus Originalfotos, die – um sie kenntlich zu machen – gerahmt präsentiert werden. Alles andere ist reine KI oder zumindest mit KI bearbeitet. Dabei ergaben sich weitere Erkenntnisse auf mehreren Ebenen: Die Interaktion mit Originalmaterial steigert die Wirkung gegenüber rein KI-generierten Bildern. Für mich ein Beweis, dass die Arbeit mit KI auch für ein ernsthaftes Projekt funktioniert. Das durchweg positive Feedback des Publikums zeigt mir, wie stark sich die Generation der „Kriegsenkel“ angeregt sieht, sich selbst zu fragen: Was haben meine eigenen Vorfahren wohl wirklich im Krieg getan? Die Ausstellungen Bisher wurde TRAUMA PORN an drei Orten ausgestellt: Zunächst war die Ausstellung im litauischen Kaunas und in Berlin zu sehen, zuletzt in Augsburg. In Bayern gab es große Vorbehalte wegen möglicher negativer Reaktionen des Aufsichtspersonals und traumatisierter Besucher. Die Befürchtungen erwiesen sich jedoch als unbegründet, denn die Umsetzung als Drei-Tage-Event mit Diskussionsrunden wurde ein Publikumsmagnet.