KI-Reportage: 90 Miles

Alle Bilder: Michael Christopher Brown mit Midjourney Von einem Fotojournalisten würde man eine eher kritische Haltung zur generativen KI erwarten, aber Michael Christopher Brown hat in seinen jüngsten Projekten die Kamera durch Midjourney ersetzt. Michael J. Hußmann sprach mit ihm über den Hintergrund dieser Vorgehensweise. Zwischen der kubanischen Küste und dem nordamerikanischen Festland liegen rund 90 Meilen, worauf der Titel des semi-fiktionalen Projekts 90 Miles anspielt. Aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen haben schon seit Jahrzehnten immer wieder Kubaner versucht, mit improvisierten Booten die 90 Meilen zu überwinden und Florida zu erreichen. Michael Christopher Brown ist seit 2004 als Fotograf in den Krisengebieten auf aller Welt unterwegs. Mit der Kamera und inzwischen auch mit dem Smartphone dokumentierte er die Zustände in Libyen, Israel und Palästina, dem Kongo, Afghanistan und immer wieder auch Kuba, für Zeitschriften wie das New York Times Magazine, National Geographic, GEO und Vogue. Mit seinem Projekt 90 Miles, das die schwierigen Lebensverhältnisse in Kuba und die Versuche, ihnen zu entkommen zeigt, hat er Neuland betreten – die Bilder sind mit Hilfe einer generativen KI entstanden. Wir wollten von ihm erfahren, was ihn zu diesem radikalen Schritt motiviert hat. DOCMA: Für einen erfahrenen Fotojournalisten wie Sie erscheint ein semi-fiktionales Projekt wie 90 Miles erst einmal seltsam: Die Bilder erwecken den Anschein einer Fotoreportage, sind aber KI-generiert. Warum haben Sie diesen Ansatz gewählt? Michael Christopher Brown (MCB): Die Geschichte, die ich in 90 Miles erzähle, überspannt mehrere Jahrzehnte, angefangen mit den späten 1960er Jahren. Sie schließt also die Zeit vor meiner Geburt mit ein, und sie schildert Situationen, mit denen ich zwar aufgrund meiner Erfahrungen in Amerika und meiner späteren Arbeit in Kuba vertraut war, zu denen ich aber keinen Zugang hatte und sie daher nicht fotografieren konnte. DOCMA: Ich kann nur mutmaßen, dass es für einen Fotojournalisten schwierig ist, das Leben der Menschen in einem diktatorisch regierten Staat unverfälscht zu dokumentieren. Glauben Sie, dass die KI-generierten Bilder der Wahrheit näher kommen, als es echte Fotos könnten? MCB: Mit den Begriffen Wahrheit und Realität ist es kompliziert, wenn es um KI und Fotografie geht. Ich habe als Fotojournalist gearbeitet, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber ich fühle mich nicht an dieses Etikett gebunden, und es war stets klar, dass es bei diesem Projekt um Storytelling statt um Fotografie geht – und um Kunst statt um Journalismus. Ich sah in dieser Anwendung der KI die Möglichkeit, Geschichten zu erzählen, wie es aufgrund verschiedener Beschränkungen auf keine andere Weise möglich wäre. DOCMA: Konnten Sie bei der Formulierung der Prompts für Midjourney auf Gespräche mit den kubanischen Flüchtlingen in Florida zurückgreifen? DOCMA: Ich konnte mich auf meine Erfahrungen vor Ort in Kuba beziehen, und auf die Geschichten, die ich dort gehört oder gelesen habe. Hinzu kamen Recherchen im Internet. DOCMA: Ihre Idee war ja, Bilder zu produzieren, die Sie nicht hätten fotografieren können. Wie reagierte Midjourney auf Ihre Prompts? Die KI konnte doch eigentlich nicht gesehen haben, was Sie zeigen wollten. MCB: Ich wollte eine Bildwelt erschaffen, die von den Erfahrungen spricht, die ich während der Recherche zu dieser Geschichte gemacht habe. Es ging mir also nicht unbedingt darum, irgendetwas darzustellen, das sich exakt so tatsächlich abgespielt hat. DOCMA: Sie minten Ihre Bilder ja auch als NFTs (Non-Fungible Token, siehe DOCMA 99 ab Seite 114 und DOCMA 102 ab Seite 106). Was für Erfahrungen haben Sie nach dem Fiasko der Bored Apes gemacht, einer Sammlung einst hoch gehandelter Bilder, die heute größtenteils wertlos sind? Gibt es noch immer einen Markt für NFTs hoher Qualität? DOCMA: Die Bilder von 90 Miles werden weiterhin gemintet; bis jetzt sind es etwa 30 Prozent der gesamten Sammlung. Die NFTs der meisten Künstler sind im Wert auf Null gefallen und werden sich auch nicht mehr erholen. Für die frühe generative Kunst wie Cryptopunks und Chromie Squiggles bin ich allerdings optimistisch. Ich glaube, dass ihr Kurs innerhalb der nächsten zwei bis zehn Jahre wieder anziehen wird; immerhin haben sie sich in der Talsohle gut behaupten können. DOCMA: Planen Sie, die Bilder von 90 Miles auch in Buchform zu veröffentlichen, so wie die Bildbände mit Ihrer Reportagefotografie in Kuba? DOCMA: Ja, auf jeden Fall. 90 Miles ist eines von mehreren Buchprojekten, an denen ich derzeit arbeite. DOCMA: Wie stehen eigentlich Zeitschriften wie das New York Times Magazine zum Thema der generativen KI? Haben sie ein Problem, solche Bilder zu verwenden? DOCMA: Diese Magazine haben zur Bebilderung von Reportagen ja schon oft Illustrationen statt Fotos genutzt, und ich meine, sie haben auch bereits einige KI-Bilder veröffentlicht. Das Problem sind eher Publikationen, die KI-Bilder nicht klar als solche kennzeichnen – oder Bilder, die den sozialen Frieden gefährden, selbst wenn sie als KI-Produkte ausgewiesen sind. DOCMA: Vielen Dank für das Gespräch! Weitere Infos unter https://michaelchristopherbrown.com