Staatliche Fürsorgepflicht: Schlechteres Leben – verbotenes Sterben
Eigentlich wollte sich Doc Baumann an diesem Wochenende wieder einmal einem Thema aus dem Bereich der Bildbearbeitung zuwenden. Aber wie es so kommt – dann erschienen ihm doch wieder zwei politische Ereignisse der Woche weitaus wichtiger als Photoshop & Co: Das Verbot von Gesundheitsminister Spahn, Schwerstkranken den Erwerb tödlicher Medikamente zu erlauben (entgegen einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts) – und die Zustimmung der EU zum Freihandelsabkommen mit Japan, das die Privatisierung der Wasserversorgung ermöglichen wird. Sieht so staatliche Fürsorgepflicht aus?
Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, in der das gewählte Parlament die Entscheidungen trifft und die Bürger nicht für jede mehr oder weniger bedeutsame Frage um ihre Zustimmung gebeten werden. Das hat gute und schlechte Folgen. Die schlechten bestehen unter anderem darin, dass die Politikverdrossenheit in weiten Teilen der Bevölkerung erschreckend zunimmt, weil „die da oben“ ohnehin tun, was ihnen passt.
Zwei Beispiele aus der letzten Woche: 93% der befragten Deutschen sind zum Beispiel dafür, dass die Wasserversorgung in öffentlicher Hand bleibt. Das hindert Bundesregierung und EU aber nicht daran, mit Japan ein Freihandelsabkommen abzuschließen, in dem Wasser zur Ware wie jede andere gemacht wird und die Ver- und Entsorgung in die Hände gewinnorientierter Konzerne fallen kann.
Und 76% der Befragten sind dafür, aktive und passive Sterbehilfe zuzulassen, wenn ein schmerzgeplagter Schwerkranker seinem Leben bewusst ein Ende setzen möchte. Bei den Über-60-Jährigen sind es sogar 85%. Das Bundesverwaltungsgericht hat im letzten Jahr entschieden, dass die Abgabe tödlicher Medikamentendosen an Schwerstkranke nicht verweigert werden darf.
Doch welche Vorstellung hat Bundesgesundheitsminister Spahns davon, wie staatliche Fürsorgepflicht für Todkranke auszusehen hat? Entgegen dem Gerichtsbeschluss weist er das bundeseigene Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte an, diese gerichtliche Entscheidung zu ignorieren – den Leidenden also diese Zustimmung zu verweigern. Ich muss gestehen, dass mich beim Lesen dieser Nachricht höchst unchristliche Gedanken heimsuchten (was nicht weiter schlimm ist, da ich Atheist bin. Aber als solcher lege ich ansonsten eigentlich Wert auf humanistische Werte.) Wie bereits bei der Bundestagsentscheidung gegen Sterbehilfe erwischte ich mich bei der Vorstellung, die Abstimmenden – und nun der Minister – kämen dereinst selbst in die Situation, unter entsetzlichen Schmerzen leidend einen gnädigen Tod durch geeignete Medikamente herbeiführen zu wollen und das aufgrund ihrer eigenen Entscheidung nicht zu dürfen.
Dass Spahn Probleme damit hat, sich in die unangenehme Lage anderer Menschen zu versetzen, hat er ja bereits mit seinen unsensiblen Aussagen zu Sozialleistungen und Armut bewiesen (und sich dann natürlich geweigert, doch mal probehalber einen Monat lang vom Hartz-IV-Satz zu leben). Was will man auch von einem Politiker erwarten, dessen Partei ein großes C im Namen trägt?
Andere Christen – gerade mal wieder ein Bischof in einem Interview – verweisen, wenn sie schon nicht vom „göttlichen Geschenk des Lebens“ sprechen, auf die Fortschritte schmerzstillender Therapien und auf das schöne Lebensende in einem Hospiz. Das ist für jemanden, bei dem diese Medikamente nicht wirken oder der sie gar nicht erst bekommt, wenig hilfreich. (Selbst bei Menschen, die nur noch kurze Zeit zu leben haben, wird absurderweise die denkbare Entwicklung einer Abhängigkeit von hochdosierten Opiaten ja mitunter als wichtiger erachtet als effektive Schmerzlinderung.) Hier wird immer – wie etwa im Falle von Abtreibung – so getan, als werde jeder Staatsbürger gezwungen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Nein, wer es als Gläubiger nicht will, muss keine Sterbehilfe in Anspruch nehmen! Aber ich verlange (wie drei Viertel der Bevölkerung), für mich, über meine eigenes Ende selbstbestimmt zu entscheiden. Wenn das auf ein Hospiz hinausläuft, warum nicht? Aber wenn ich es anders will, sieht meine Vorstellung über staatliche Fürsorgepflicht so aus, dass mir das niemand verweigern kann.
Am Rande: Das Verbot aktiver Sterbehilfe hat aus meiner Sicht ausschließlich negative Folgen: Zum einen muss jemand, der langfristig ein qualvolles Ende auf sich zukommen sieht, die Entscheidung zum Freitod bereits zu einem frühen Zeitpunkt umsetzen, an dem er das noch aktiv tun kann, aber wo er eigentlich noch relativ gut weiterleben könnte – er (oder sie) weiß aber, dass diese Voraussetzung nicht mehr gegeben ist, wenn man seinen Tod nicht mehr selbst herbeiführen kann, sondern andere sich durch aktive Unterstützung strafbar machen. Man muss also aufgrund dieses Verbotes deutlich früher aus dem Leben scheiden, als man es eigentlich möchte.
Zum anderen zwingt die Nichtfreigabe tödlicher Medikamente Selbstmordwillige zu Umständen der Ausführung, die für Dritte sehr belastend sein können, etwa für Zugführer, denen sie vor die Lok springen.
Am faszinierendsten finde ich aber immer das Argument, man müsse verhindern, dass eine Sterbeindustrie entstehe und Leute mit dem Tod anderer auch noch gewerbsmäßig Geld verdienen. Klingt gut, solange man nicht weiter nachdenkt. Aber mit genau demselben Recht könnte man sagen, es dürfe doch nicht sein, dass eine Krankheitsindustrie existiere, die mit dem Leiden der Menschen Geld verdiene. Das beginnt mit der Hausärztin, die einen Schnitt im Finger versorgt. In Bezug auf dieses vorgebliche Argument richtig spannend wird es aber, wenn der Tod naht: Längst weiß doch fast jeder, dass die Krankenhäuser Milliarden damit verdienen, Alten mit unheilbaren Krankheiten noch einige schmerzhafte Tage und Wochen auf Intensivstationen aufzuzwingen, die absehbar nichts bringen, Leiden unnötig verlängern und einen großen Teil des Gesundheitsetats verschlingen.
Fazit: Minister Spahn handelt gegen ein höchstrichterliches Urteil und stellt die staatliche Fürsorgepflicht für die Bürger/innen auf den Kopf.
Und eben dieselbe staatliche Fürsorgepflicht wird in den Eimer getreten, wenn Regierung und EU entscheiden, dass mit dem Freihandelsabkommen mit Japan die Wasserversorgung in Konzernhände geraten darf. (Fast) jeder weiß, wohin die Privatisierung öffentlicher Leistungen führt. Nichts wird besser, aber alles schlechter. Das beweisen entsprechende Maßnahmen weltweit. In den USA gehen die Pläne ja bereits so weit, auch Schulen oder Gefängnisse zu privatisieren. Unternehmen tun nichts, um Menschen zu helfen, sondern sie wollen Geld verdienen, also Gewinne machen. Gewinne aus öffentlichen Leistungen fließen zurück in öffentliche Kassen, und eventuelle Verluste werden aus öffentlichen Einnahmen subventioniert. Privatisierungen führen dagegen immer zu einer Verschlechterung der Leistungen und zur Ausbeutung der Beschäftigten.
Ganz schlimm ist das „Argument“, private Betreiber arbeiteten effektiver und günstiger. Das bedeutet doch im Klartext, wir wollen die Mitarbeiter in diesen Bereichen nicht länger nach Tariflohn bezahlen, sondern lagern das an Unternehmen aus, die Mindestlohn bezahlen. Staatliche Fürsorgepflicht in diesem Verständnis führt dann etwa dazu, dass im Versandbereich Paketausträger von ihrem Gehalt nicht mehr leben können, bis tief in die Nacht Pakete ausfahren müssen, und dass sich fünf Lieferwagen dort drängen, wo früher einer kam. (Gut, zugegeben, das Paketaufkommen ist dank Webbestellungen deutlich gewachsen. Aber früher musste ich einmal zur Tür, wenn der Bote klingelte, und heute schon fünf Mal, bis alle mit ihrer Tour durch sind.)
Aber noch mal zurück zur Wasserversorgung. In manchen südamerikanischen Ländern mit privatisiertem Versorgungssektor dürfen die Bewohner der Slums nicht einmal mehr Regewasser auffangen und nutzen; das ist gesetzlich verboten, weil es den Profit der Konzerne schmälern würde! Wollen wir solche Zustände auch in Europa? (Wir wollen sie auch nicht in Südamerika.) Die Volksvertreter, die solche Entscheidungen treffen, sollen ja eigentlich zum Wohle derjenigen tätig werden, von denen sie gewählt wurden. Entscheidungsträger legen Amtseide ab (die allerdings, wie ein Gericht einmal entschied, keineswegs so bindend sind wir ein Eid in einem Gerichtsverfahren. Zuwiderhandeln ist also auch kein Meineid und kann nicht als solcher bestraft werden. Mit anderen Worten: Der Eid ist eine Leerformel und praktisch betrachtet leeres Geschwätz).
Hier kommt mir manchmal der unabweisbare Gedanke in den Kopf: Wissen diese Volksvertreter nicht, über was sie da abstimmen und kennen sie die Folgen nicht? Kriegen sie viel Geld dafür, auf den Parlamentssesseln und in Ausschüssen zu sitzen und dann nach Partei- und Fraktionsvorgaben ihre Stimme abzugeben (grundgesetzwidrig, da sie nur dem eigenen Gewissen verpflichtet wären)? Oder, was noch schlimmer wäre: Wissen sie es und stimmen sie trotzdem so ab, obwohl sie die Folgen für ihre Wähler kennen? Und womit revanchieren sich dann jene, denen solche Gesetze und Verträge nutzen und viel Profit bringen?
Leichter kann man es Populisten kaum machen. Entscheider, die staatliche Fürsorgepflicht für die Bürgerinnen und Bürger solcherart (miss-)verstehen, dürfen sich nicht wundern, wenn ihnen die Wähler abhanden kommen. Wobei ich mich dann immer wieder frage, warum die sich die Lösungen ausgerechnet von rechten Sprücheklopfern erhoffen. Oder – ähnlich seltsam – warum solche Politiker trotzdem wiedergewählt werden.
Ja mei, marktkonforme Demokratie.
Eigentlich ist alles noch viel schlimmer als sie schreiben.
Letzens in einer Kurzmeldung der Tagesschau, die Wasserinfrastruktur wird modernisiert. Warum wohl?
In Sucre/ Bolivien hats wg dem amerikanischen Trinkwasserversorger Aufstände gegeben und der hat fluchtartig das Land verlassen.
Und dann noch der Spruch eines Arztes: man ist sich seines Todes nicht mehr sicher.