Das Bild, die BILD und ganz viel Heuchelei
Die BILD-Zeitung erschien gestern ohne Bilder, Werbung einmal ausgenommen. Weil viele, der Presserat eingeschlossen, manche in der BILD veröffentlichte Bilder beanstandet hatten, wollte die Redaktion ein Zeichen für die Macht des Reportagefotos setzen.
Der aktuelle Anlass war das Bild von Alan Kurdi, jenes im Mittelmeer ertrunkenen syrischen Kindes, dessen Schicksal viele Menschen in Europa bewegt hat. Aber war es dafür nötig, einem toten Kind in die Augen zu blicken? Die BILD hatte das Foto veröffentlicht, viele andere Medien ebenfalls. Es ist ein schwieriges Problem, bei dem ich beide Positionen nachvollziehen kann: Manchmal braucht es ein drastisches Foto wie dieses, um eine apathisch gewordene Öffentlichkeit aufzurütteln; andererseits verbietet die Achtung der Menschenwürde eigentlich, solche Fotos zu zeigen. Ich hätte mich im Zweifelsfall gegen die Veröffentlichung entscheiden (denn der Pressekodex verbietet, einen Menschen in der Berichterstattung zum bloßen Zweck herabzuwürdigen, und das sollte auch noch für den besten Zweck gelten), würde aber niemandem allein deshalb einen Vorwurf machen, weil er das anders sieht. Das bedeutet aber noch nicht, dass ich auch der BILD Absolution erteilen müsste.
Julian Reichelt, Chefredakteur von BILD Online, stellt sich und sein Medium in eine illustre Tradition: „Denken wir an das nackte Mädchen in Vietnam, das mit verbrannter Haut vor einem Napalm-Angriff flieht. Denken wir an die Fotos, die uns 1994 aus Ruanda erreichten, zerhackte, zertrümmerte Körper. Bilder, die der westlichen Welt einen leicht verhinderbaren Völkermord – und das eigene Versagen – vor Augen hielten. Denken wir an die Bilder aus Srebrenica.“ In der Tat waren es ja manchmal Bilder, die die öffentliche Meinung entscheidend beeinflusst haben, und Nick Uts Foto der nach einem Napalm-Angriff fliehenden Kinder (vor wenigen Monaten war ich selbst darauf eingegangen: Beschnitt = Manipulation?) ist ein gutes Beispiel dafür. Aber ist es unfair, daran zu erinnern, dass die BILD einst angesichts der Demonstrationen deutscher Studenten gegen den Vietnamkrieg fest an der Seite der USA gestanden und diesen Krieg gerechtfertigt hatte?
Vor allem aber hat der Pathos von Reichelts Text wenig mit der tatsächlichen Praxis der BILD zu tun. Es ist ja nicht so, als ob die BILD für ihre Fotoreportagen berühmt wäre. Im Tagesgeschäft bedient man sich bei Handy-Fotos, die „Leserreporter“ einsenden, also Leute, die angesichts von Unfällen, Verbrechen oder Naturkatastrophen nichts Besseres zu tun haben, als mit dem Smartphone ’draufzuhalten und die Silberlinge der BILD einzustreichen. BILD-Redakteure bedienen sich auch gerne ungefragt und unter Missachtung des Urheberrechts bei Facebook-Fotos – das klassische „Witwenschütteln“ ist heute kaum noch nötig, um an Bilder zu kommen. Da kann es dann schon einmal vorkommen, dass man daneben klickt und Fotos mutmaßlicher Mörder oder Mordopfer zeigt, die gar nichts mit diesen zu tun haben. Und auch dann, wenn das illegal veröffentlichte Bild zur Person passt, wird sich der vermeintliche Mörder manchmal als unschuldig herausstellen, und man kann nur von Glück sagen, wenn der aufgehetzte Lynchmob dann keinen Erfolg hat. Auf bildblog.de ist eine Vielzahl solcher Fälle dokumentiert, siehe beispielsweise Wenn BILD Unschuldige zu Mördern macht. Auch wenn die Polizei die Medien inständig bittet, Fahndungsfotos nicht länger zu veröffentlichen, weil die Gesuchten mittlerweile festgenommen seien, missachtet die BILD das regelmäßig. Julian Reichelt wird es ein besonderer Stachel im Fleisch gewesen sein, dass ihn das Oberlandesgericht Celle jüngst als Pressevertreter vom Prozess gegen mutmaßliche IS-Kämpfer ausschloss, nachdem die BILD entgegen der Akkreditierungsbestimmungen Bilder der Angeklagten unverpixelt gezeigt hatte.
Reichelts Artikel schließt mit einem flammenden Plädoyer für den Bildjournalismus: „Diese BILD-Ausgabe ohne Fotos ist eine Verneigung vor der Kraft der Fotos. Ohne Fotos wäre die Welt noch ignoranter, wären die Schwachen verloren, unsichtbar. Ohne Fotos blieben viele Verbrechen nicht nur ungesühnt – sie würden nicht einmal erinnert. Fotos sind der Aufschrei der Welt.“ Wie weit ist es aber mit der Hochschätzung des Reportagefotos und ihrer Fotografen her? Wie gesagt: Die BILD ist nicht gerade für ihre Reportagefotografie berühmt. Vor wenigen Tagen erst erregte die Entscheidung des Schwestermediums Auto BILD damit Aufsehen, sich von seinen Fotoredakteuren zu trennen. Wie der Branchendienst Kress berichtete, muss künftig jeder Redakteur selbst für Bilder sorgen – knipsen kann schließlich jeder. Der Springer Verlag gibt solchen Entscheidungen einen beschönigenden Spin: „Um die Print- und Online-Redaktion noch enger zu verzahnen und die Digitalisierung der Marke voranzutreiben, haben wir bereits 2014 die Workflows innerhalb der Chefredaktion neu organisiert und die Verantwortung der einzelnen Redakteure gestärkt“ – „die Verantwortung stärken“ bedeutet, dass die Redakteure Mehrarbeit leisten müssen, für die sie nicht qualifiziert und vielleicht auch nicht besonders talentiert sind.
Eine BILD ohne Bilder lässt nichts vermissen, denn große Fotoreportagen findet man ausschließlich anderswo. Nicht diejenigen sind eine Gefahr für den Fotojournalismus, die nicht alles zeigen wollen, das man zeigen könnte; das sind vielmehr Boulevard-Medien wie die BILD, die Fotos allein nach ihrem verkaufsfördernden Potential beurteilen.
Ihr Michael J. Hußmann
PS: Für alle, die erwartet hatten, dass ich als Kameratechnik-Fex heute etwas zu Canons 250-Megapixel-Sensor oder der vagen Ankündigung eines EOS-Modells mit 120 Megapixeln schreiben würde, nur so viel: 2007 hat Canon einen APS-H-Sensor mit 70 Megapixeln vorgestellt, dann aber keine Kamera mit diesem Sensor gebaut. 2010 folgte die Ankündigung eines APS-H-Sensors mit 120 Megapixeln; auch dies blieb folgenlos. Jetzt ist es also ein 250-Megapixel-Sensor, mit dem man sogar höchstaufgelöstes Video mit 5 Bildern pro Sekunde aufzeichnen könnte. Man müsste nur noch eine sinnvolle Anwendung dafür finden.
Ich gönne Canons Sensor-Entwicklern ja, dass sie noch Zeit für Hobbies finden, aber sie sollten auch ihren Brotberuf nicht vernachlässigen. Sony macht ihnen schon seit ein paar Jahren vor, wie man ISO-lose Sensoren baut, und in diesem Bereich hätte Canon noch einiges aufzuholen. Auf extrem hohe Auflösungen kommt es heutzutage gar nicht mehr an, ein paar Spezialanwendungen vielleicht ausgenommen.
Die angebliche Wertschätzung für Fotos zeigt sich leider nicht in den Honoraren! Und das nicht erst seit gestern….
Dämliches scheinheiliges Geschwätz – eben BILD!