Update: Der griechischer Stinkefinger – eine plumpe Bildmontage?
Große Aufregung in Deutschland – hat der griechische Finanzminister Varoufakis bei einer Rede tatsächlich den Deutschen den Stinkefinger entgegengestreckt? Allerorten werden Fachleute interviewt, die die Echtheit des Videos, das in der „Günther Jauch“-Sendung eingespielt worden war, bestätigen.
Allerdings lassen sich an dieser vorgeblichen Echtheit erhebliche Zweifel anmelden. Die politische Meinungsmache und Manipulation beginnt bereits damit, dass es sich hier gar nicht um eine aktuelle Aufnahme handelt, sondern um eine aus dem Jahr 2013 – eine Rede, die sich auf Ereignisse des Jahres 2010 bezieht. Damals war Varoufakis also noch gar nicht Finanzminister. Im aktuellen politisch-wirtschaftlichen Kontext wird das Video aber in einer Weise präsentiert, aus der die meisten Betrachter schließen, es gehe dabei um seine aktuelle Kommentierung der Verhandlungen Griechenlands mit der EU.
Echt oder gefälscht? Die Aussagen eines etwa vom „Focus“ zitierten Video-Experten treffen zunächst nicht den Kern – dass Licht und Schatten stimmen, die Bewegungen von Mund und Körper harmonisch sind und synchron laufen und zu den zu hörenden Worten passen, ist nicht das Problem. Das ist unstrittig. Tatsächlich könnte auch die Plausibilität dafür sprechen, dass jemand, der gerade sagt, „stick the finger to Germany“ auch eine entsprechende Geste ausführt und den „Stinkefinger“ zeigt.
Jedoch: „Nur der Mittelfinger an sich ist laut Christian Schneider nicht ganz aufzuklären; aufgrund des einheitlichen Hintergrundes ist es nicht sonderlich schwierig, mit Photoshop und Video-Tracking den Mittelfinger mit dem Zeigefinger auszutauschen. (…) Es deutet also alles darauf hin, dass Yanis Varoufakis bei Günther Jauch vor laufender Kamera ein Millionenpublikum belogen hat.“ Es bleibt das Geheimnis von „Focus“ , wie aus der gerade zitierten Möglichkeit der Bildmontage die Sicherheit der unterstellten Lüge wird.
Doch betrachten wir das Video-Material selbst. Die Videosequenzen, die den Finger zeigen, sind wegen der schnellen Bewegung des Arms an einer Hand abzuzählen. Der Aufwand einer möglichen Fälschung ist also gering. Unser erstes Bild zeigt den inzwischen weit verbreiteten Augenblick des hochgereckten Fingers. Das sieht nicht weiter verdächtig aus. Die folgenden Beobachtungen und Analysen sind Indizien, die den Tatbestand einer Bildverfälschung als zumindest möglich erscheinen lassen. Ob eine solche wirklich ausgeführt wurde, lässt sich anhand des komprimierten Videomaterials nicht mit letzter Sicherheit behaupten.
Wenn wir das Bild stark vergrößern (Abbildung 2), fällt ein merkwürdiger, exakt waagerechter Bruch in der Hand unterhalb der Finger auf dem Handrücken auf. Für ein Komprimierungsartefakt erscheint diese klare horizontale Linie zu lang und ausgeprägt. An derselben Stelle ist ein kräftiger seitlicher Sprung der vertikalen Körperschattengrenze zu erkennen.
Ähnlich seltsam und auffällig ist in einem weiteren Bild der kurzen Sequenz (Abbildung 3), dass sich oberhalb des gebeugten Ringfingers und links vom Mittelfinger Pixelgruppen mit Hautton-Farbe befinden, die hier offensichtlich nicht hingehören – Restbestände unsauberer Retusche? Sowohl Abbildung 2 wie Abbildung 3 lassen die Möglichkeit zu, dass hier eine Bildmanipulation vorgenommen wurde.
Christian Schneider deutet die – dann vom „Focus“ ignorierte – Möglichkeit an, dass Zeige- und Mittelfinger ausgetauscht wurden. Das Original könnte dann also so ausgesehen haben wie Abbildung 4. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Zeige- und Mittelfinger zusammen ausgestreckt waren und der Zeigefinger mit dunklen Hintergrundpixeln überstempelt wurde. Dafür könnte sprechen, dass das Grundglied dieses Fingers im Vergleich zu dem des benachbarten Mittelfingers zu lang erscheint.
Nachtrag: Fälschung entlarvt und trotzdem daneben gelegen?
Meine Analyse von oben geht davon aus, dass das Video verfälscht wurde. Das ist höchstwahrscheinlich richtig. Ich habe ein paar Merkmale beschrieben und vorgestellt, die das belegen, gewisse „Unsauberkeiten“ isoliert – wahrscheinlich ebenfalls zu recht.
Die ganze Angelegenheit nimmt nun allerdings eine völlig neue Richtung, denn in einem auf Youtube eingestellten Video aus der Sendung „Neo Magazin Royale“ behauptet dessen Moderator Jan Böhmermann, die Videosequenz sei von seinem Team gefakt worden. (https://www.youtube.com/watch?v=Vx-1LQu6mAE). Die dabei gezeigten Aufnahmen scheinen das in der Tat zu belegen – der Aufwand, um einen nicht stattgefundenen Fake nachträglich zu faken, erscheint doch deutlich zu doch. Perfekt gemacht! Und da an dieser Stelle auch die echte (gehen wir mal davon aus) Sequenz gezeigt wurde, muss sich so oder so jemand die Arbeit gemacht haben, diesen Teil der Rede zu verfälschen. Da scheint mir dann doch mehr dafür zu sprechen, dass der Fuck-Finger montiert wurde als eine belanglose Armbewegung.
Nun kann man Böhmermann ja eine ganze Menge zutrauen, auch, dass er sich zu einer Fälschung bekennt, die eigentlich gar keine ist. Ich würde als Arbeitshypothese dennoch sagen: So war’s wohl tatsächlich. Schön, wie er damit nicht nur Jauch und Millionen Fernsehzuschauer an der Nase herumgeführt hat, sondern auch die interviewten Fachleute, die detailreich begründeten, dass hier keine Fälschung vorgenommen worden sein könne. Dasselbe gilt für etliche Kommentare zu meinem Text, die ihn zurückweisen, da doch das „Original“ aufgetaucht sei und die Echtheit der Szene definitiv beweise.
Allerdings habe ich selbst dann auch etwas daneben gelegen. Die von mir gefundenen Fehlerreste könnten zwar tatsächlich auf die Montage zurückzuführen sein – allerdings war ich davon ausgegangen, dass nur die Finger nachträglich manipuliert worden waren. Tatsächlich wurde aber ein grün gekleideter Mann vor grünem Hintergrund gefilmt und sein isolierter Arm – mit Stinkefinger – vor den Körper montiert. Weil dabei der ursprüngliche Arm entfernt und die Bewegung des Hemdes angepasst werden musste, haben wir hier eine technisch hervorragende Arbeit vor uns.
Und wir müssen mit der Erkenntnis leben, dass Fälschungen, mit entsprechender Qualifikation und ausgefeilten Werkzeugen ausgeführt, eigentlich nicht mehr zu erkennen sind. Varoufakis hat Böhmermann inzwischen zu dem Fake gratuliert – der Mann hat Humor, und den kann er in den nächsten Wochen wohl auch brauchen.
Nachtrag II: ZDF: Fake ist ein gefakter Fake. Definitiv! Oder doch nicht?
Nun wird’s aber schwierig! Jan Böhmermann stellte klar: „Unser Video ist zu 100 Prozent echt. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Lügner. Als Entschuldigung und Zeichen des guten Willens gegenüber unseren europäischen Freunden sollten Günther Jauch und die Redaktion der ‚Bild‘-Zeitung umgehend die Eurozone freiwillig verlassen. Die Unterstellung, dass das Video ein von uns manipulierter Fakefake-Fakefakefake sei, ist absolut haltlos.“ Und das ZDF verbreitete mit dem Hinweis darauf, dass das „Neo Magazin Royale“ je bakanntlich eine Satire-Sendung sei, auch der Vorab-Bericht über die vorgenommene Verfälschung sei ihrerseits eine Fälschung.
Jedenfalls ist diese Geschichte inzwischen so verworren, dass keiner mehr durchblickt – und die Beteiligung von „Neo Magazin Royale“ so oder so ein genialer Satire-Beitrag. Böhmermanns Verweis auf die Sendung einer Jahre zurückliegenden Rede und die damit beabsichtigte Stimmungsmache ist wünschenswert deutlich. Das entwickelt sich inzwischen so stark zum Kernproblem, dass es fast unwichtig ist, ob der Finger nun echt ist oder nicht.
Wenn sich die Aufregung gesetzt hat, werden wir von DOCMA berichten, wie es wirklich war: Der Jan Böhmermann in dem Youtube-Video ist nämlich gar nicht wirklich Böhmermann, sondern mein verkleideter Kollege Olaf Giermann, und der Mann in dem grünen Anzug Michael Hussmann, und ich selbst war der, der am Monitor demonstrierte, wie der Varoufakis-Arm gefakt wurde. Hat man ja schon am Bart gesehen. Ist jetzt alles klar?
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