Passend zu Weihnachten erschien kürzlich beim Taschen Verlag „Das Buch Piraten“. Ähnlich wie – zumindest früher – Modelleisenbahnen als Geschenk für die Kinder deklariert wurden, dann aber vor allem die Spielfreude der Väter befriedigten, ist auch dies ein Geschenk für die ganze Familie: Die Kinder lernen in Auszügen vier der bekanntesten Piraten-Erzählungen kennen, die Erwachsenen erfahren dank der ausführlichen Einleitung etwas über deren tatsächliche Geschichte und alle können sich an den phantasievollen Illustrationen erfreuen.
Illustration: N.C. Wyeth @ Taschen Verlag 2024
Zunächst hatte ich gewisse – ausnahmsweise politisch korrekte – Bedenken dagegen, Ihnen dieses Buch vorzustellen. Schließlich verklären die meisten Piraten-Erzählungen Freibeuter als sozialromantische Rebellen; Morde, brutale Vergewaltigungen und dergleichen kommen kaum vor, wie viele Menschen durch Raub, Entführungen und Plünderungen ins Elend gestützt wurden, wird angesichts geheimnisvoller Kisten voller Gold nicht weiter gefragt. Vielleicht waren ja alle von ihnen im Grunde ganz nette Kerle, harte Schale, weicher Kern, schlitzohrig wie Captain Jack Sparrow.
Nein, waren sie überwiegend nicht, und erfreulicherweise erfährt man das sofort in den ersten Zeilen der ausführlichen und kompetenten Einleitung, die von dem Professorenehepaar Robert E. und Jill P. May verfasst wurde. Beide haben sich während ihrer gesamten Laufbahn an der Purdue Universität in Indiana mit dem Thema befasst. Die Piraten der frühen Neuzeit waren wohl genauso unsympathische Gestalten wie ihre gegenwärtigen Nachfolger, die am Horn von Afrika oder anderswo Schiffe plündern und Besatzungen entführen, bis Lösegeld für Ihre Freilassung bezahlt wird.
Illustration: N.C. Wyeth @ Taschen Verlag 2024
Dennoch bleibt die Faszination der Piraten bis heute ungebrochen; Kinder verkleiden sich entsprechend im Fasching und eine – schnell wieder in der Versenkung verschwundene – Partei lieh sich sogar ihren Namen. Das ist ähnlich schwer nachzuvollziehen wie die Verwendung von Guy-Fawkes-Maske auf Protestveranstaltungen, dürften die Maskenträger die Ziele des erzkatholischen Reaktionärs, religiösen Eiferers und angehenden Massenmörders doch kaum teilen. Kommt davon, wenn man Geschichtswissen aus V-wie-Vendetta-Comics und -Filmen bezieht.
Noch ein letztes Wort zu „politischer Korrektheit“, bevor ich endlich zum Buch selbst komme: An dessen Ende ist die Anmerkung zu lesen: „Die im vorliegenden Band enthaltenen Geschichten stammen aus den Romanen Robinson Crusoe, Die geheimnisvolle Insel, Die Schatzinsel und Howard Pyles Buch der Piraten. Manche der in diesen Texten verwendeten Ausdrücke spiegeln die Denkweise und Haltung der Zeit wider, in denen sie verfasst wurden, und sollten im historischen Kontext gelesen werden.“ Einen solchen Hinweis finde ich durchaus sinnvoll, und er hebt sich angenehm von bilder- und textstürmerischem Aktionismus ab, der meint, mit verordneter unhistorischer Sprachsäuberung die schlechte Wirklichkeit korrigieren zu können.
Illustration: N.C. Wyeth @ Taschen Verlag 2024
Wie also gerade bereits erwähnt: Das Buch präsentiert vier lange Auszüge aus der klassischen Abenteuerliteratur, in denen Piraten eine wichtige Rolle spielen: Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, Jules Vernes „Die geheimnisvolle Insel“, Robert Louis Stevensons „Die Schatzinsel“ sowie Howard Pyles „Buch der Piraten“ (wobei Letzteres eher ein Sachbuch als Unterhaltungsliteratur ist).
Großzügig über das gesamte Buch verteilt sind meist ganzseitige Farbillustrationen, aber auch kleinere Schwarzweißzeichnungen der folgenden Künstler: Zdenek Burian, Jules Férat, Frank Godwin, Walter Padget, Howard Plye, Louis Rhead, George Roux, Frank Schoonover, George Varian, Edward Henry Wehnert, Alice Bolingbroke Woodward und Newell Convers Wyeth. Titel und Kapitelangänge hat der Illustrator Michael Custode entworfen (und man muss leider feststellen, dass die Qualität seiner aktuellen Grafiken trotz stilistischer Anlehnung an Holzstiche des 19. Jahrhunderts gegenüber denen seiner Kollegen aus dieser Zeit stark abfällt, mit steifen Gestalten und oft unharmonischer Schraffur; genauer gesagt muss ich das feststellen, vielleicht sind Sie ja anderer Meinung, wenn Sie sich diesen schönen Band anschauen. Gerade für die wichtige Coverillustration hätte sich eher ein Bild der Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert angeboten.).
Im Anhang des Bandes werden sowohl die vier Autoren der literarischen Texte als auch alle Illustratoren ausführlich vorgestellt – Howard Pyle taucht dabei in beiden Kategorien auf: als Piratenexperte sowie als Altmeister entsprechender Illustrationen (und auch Lehrer etlicher anderer genannter Grafiker). Ein mehrseitiges Glossar mit den wichtigsten Begriffen schließt den Band ab.
Illustration: H. Pyle @ Taschen Verlag 2024
Typographie, Bild- und Papierqualität sind vorbildlich; die Texte sind zweispaltig gesetzt und so gut lesbar. Einziger Kritikpunkt: Zwar steht am Anfang der einzelnen Literaturkapitel, welche Künstler dort mit ihren Bildern vorgestellt werden, es fehlen aber im Kontext der Illustrationen entsprechende Hinweise auf Urheber, Titel und Jahr. Diese Information muss man sich selbst erarbeiten und über die am Anfang der Künstlerbiographien jeweils aufgeführten Seitenzahlen mühsam selbst zuordnen.
Fazit also: Ein Band, der im gemütlichen Sessel allen etwas bietet für die kalten Tage nach Weihnachten: den Leseratten und den Bilderliebhabern.
Robert E. und Jill P. May (Texte):
Das Buch der Piraten
Taschen Verlag 2024
392 Seiten, gebunden, Halbleinen, Format 21 x 26 cm
30 Euro
(seltsamerweise finden sich unter den Titeln „Pirate Tales“ und „Histoires de Pirates“ bei Amazon nur die englischen und französischen Fassungen)