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Ist KI jetzt Physik?

Der Nobelpreis für Physik geht in diesem Jahr an John Hopfield und Geoffrey Hinton, zwei Wissenschaftler, deren Leistungen im Bereich neuronaler Netze liegen. Aber was hat das mit Physik zu tun?

Dass die Nobel-Laureaten preiswürdig sind, steht außer Frage; beide haben entscheidende Beiträge zur Entwicklung künstlicher neuronaler Netze geleistet, ohne die es die aktuellen KI-Systeme nicht gäbe. Allerdings zählt ihr Forschungsfeld zur Informatik (computer science) oder zur Kognitionsforschung, je nachdem, mit welchem Blickwinkel man sich damit beschäftigt. Wieso also ein Nobelpreis für Physik? Nur aus Verlegenheit, weil der 1896 verstorbene Alfred Nobel noch nichts von diesen heute so wichtigen Wissenschaftsgebieten ahnen konnte und dafür keinen Preis gestiftet hatte?

Der Nobelpreis für Physik geht gewöhnlich an Wissenschaftler, die neue physikalische Phänomene entdeckt haben, wie beispielsweise der allererste Preisträger, Wilhelm Conrad Röntgen (1901), oder Marie Curie (1903). Andere haben sich durch die Entwicklung physikalischer Theorien ausgezeichnet, wie Max Planck (1918), Albert Einstein (1921), Richard Feynman (1965) und Peter Higgs (2013). Hopfield und Hinton dagegen haben nichts dergleichen getan. Hopfield ist zwar immerhin Physiker und hat früher auch in diesem Bereich geforscht, aber es sind nicht diese Forschungsergebnisse, für die ihn nun die Schwedische Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet hat.

Künstliche neuronale Netze sind eine vereinfachte Nachahmung biologischer Nervensysteme. (Quelle: The Royal Swedish Academy of Sciences)

Der Nobelpreis gilt vielmehr seinen Forschungen im Bereich künstlicher neuronaler Netze. Solche Netzwerke haben, sofern sie nicht bloße Theorie bleiben, eine physische Realisierung, aber deren Natur ist prinzipiell beliebig. Die allerersten Nachbauten biologischer Nervensysteme waren noch Analogrechner, in denen die unterschiedlich starken Verbindungen zwischen den simulierten Nervenzellen als Potentiometer, also veränderbare Widerstände realisiert waren. Mit diesen verbundene Motoren sorgten dafür, dass sich diese Verbindungen im Zuge eines maschinellen Lernverfahrens verändern ließen. Später ließ man digitale Computer die Nervenzellen durch Berechnungen simulieren, erst mit Elektronenröhren, dann mit Transistoren und integrierten Schaltkreisen und künftig vielleicht mit Qubits in Quantencomputern. Ein KI-Modell bleibt aber immer dasselbe, unabhängig davon, wie es ausgeführt wird, und es besteht einfach nur aus einem Haufen Zahlen. Was immer an einer KI Physik ist, hat nichts damit zu tun, was es tut und was es kann.

Geoffrey Hintons Weiterentwicklung der neuronalen Netze John Hopfields war durch eine Analogie zu den statistischen Beschreibungen von Gasen inspiriert, die der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann (1844–1906) entwickelt hatte. (Quelle: The Royal Swedish Academy of Sciences)

Dass die Wahl der Preisträger erklärungsbedürftig ist, war offenbar auch dem Nobelkomitee klar, weshalb es in seiner Begründung darauf eingegangen ist. Sie betonen, dass sich beide Ausgezeichneten durch physikalische Analogien leiten ließen: John Hopfield war beispielsweise von der Art und Weise inspiriert, wie sich der Spin eines Elektrons an den Spins seiner Nachbarn orientiert, als er seine neuronale Netze konzipierte. Geoffrey Hinton dachte daran, wie Ludwig Boltzmann das Verhalten von Gasmolekülen mit statistischen Verfahren beschrieben hatte, und aufgrund dieser Analogie nannte er seine Variante neuronaler Netzwerke eine Boltzmann machine.

Nun ja … Mit einer ähnlichen Begründung könnte man die zeitweise populären Atommodelle, die Elektronen als Planeten beschrieben, die den Atomkern als Sonne umkreisen, als Beitrag zur Astronomie bezeichnen. Mit der sie natürlich nichts zu tun haben (mal ganz abgesehen davon, dass solche Modelle längst überholt sind: Elektronen sind keine Objekte, die sich auf Umlaufbahnen bewegen). Und natürlich ist die allerwichtigste Quelle von Analogien in der KI nicht die Physik, sondern die Neurowissenschaften. Aber es gibt nun mal keinen Nobelpreis für Informatik, Kognitionswissenschaften, Neurowissenschaften oder was immer man hier als einschlägig ansehen mag. Der Turing Award der ACM (Association for Computing Machinery), der als eine Art Nobelpreis für Informatik gilt, wird höchst selten an KI-Wissenschaftler verliehen, aber immerhin hat ihn Geoffrey Hinton schon 2018 bekommen; John Hopfield ging bislang leer aus.

Mein Fazit: Ich gönne Hopfield und Hinton ihren Preis, auch wenn es erheblicher argumentativer Klimmzüge bedarf, will man ihre wissenschaftliche Arbeit mit Physik in Verbindung bringen.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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