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Das Märchen von den guten Filmen und den bösen Pixeln

Bernd Arnolds Buch „Die Welt der Neuen Bilder“

Die Verwechslung von Aufnahmetechnik und Nachbearbeitung bestimmt die Diskussion über Digitalfotografie seit ihren Anfängen. Wer nie selbst in der Dunkelkammer gestanden hat, mag manche Behauptungen über fotografische Authentizität für überzeugend halten. So ist es recht verwunderlich, dass der Verfasser dieses Buches ein professioneller Fotograf mit Dunkelkammererfahrung ist, der früher seine Filme und Abzüge selbst entwickelt hat.

KI-Illustration: Doc Baumann, mit Midjourney und Deep Dream Generator

 

Arnolds Buch besteht aus drei Teilen, der erste entstand 1987/88, die beiden folgenden sind neueren Datums, 2021 und 2023. Natürlich darf man heute einen Text veröffentlichen, den man bereits 1988 geschrieben hat. Vor allem, wenn man damit belegen möchte: Ich habe es ja schon immer gesagt! Und in der Tat klingt manches, was Arnold damals geschrieben hat, durchaus hellsichtig und hat sich in der damaligen Zukunft, die unsere aktuelle Gegenwart ist, so verwirklicht.

So schrieb er damals: „Mit der Digitalisierung des Abgebildeten ist es nun möglich, Fotos wie andere digitale Informationen beliebig zu verändern. Der festgehaltene Wirklichkeitsausschnitt wird in Verbindung mit einem Computer zum Rohstoff, der vielfältig einsetzbar wird und hinsichtlich seiner Schärfe, Auflösung, Perspektive, Beleuchtung, Farbigkeit, Größe, Kontrast variabel ist. Ganze Bildteile können verschoben werden, verschwinden oder in einem elektromagnetischen Archiv gesammelt werden, und dort für andere Bilder wieder zur Verfügung stehen. Der Übergang zum synthetisch hergestellten Bild wird fließend. Das Bild verliert seinen Charakter der Authentizität, da eine Kontrollierbarkeit wie bei der Negativtechnik nicht mehr vorhanden ist. … Denn eine nachträgliche Veränderung des Fotos ist nachweisbar und die Authentizität des fotografischen Dokuments ist damit gesichert.“

Das war 1988 in Teilen durchaus weitsichtig – wenn auch Veränderungen der Perspektive oder Beleuchtung noch heute Zukunftsmusik sind (vergleiche dazu aber unseren Blog-Beitrag zur Relight-Funktion von Magnific.ai https://www.docma.info/ki/revolutionare-relight-funktion-von-magnific-ai). Allerdings wurden schon damals zwei Prozesse verwechselt oder unangemessen unter einen Hut gesteckt, die eigenständig und unabhängig sind: Die Aufnahme einer Szene und ihre nachträgliche Manipulation. Arnold verbreitet den Mythos, Letzteres sei erst mit der Digitaltechnik in die Welt gekommen.

„Beides, das digitale Bild und das Foto, wird sich im gedruckten Zustand nicht voneinander unterscheiden, aber es sind nicht die gleichen Abbilder. Die Fotografie ist eingebrannt. […] Das digitale Bild jedoch zeigt sich nicht, es ist in Ja/Nein-Informationen gespeichert und muss erst noch zusammengebaut werden, muss sich erst noch verwandeln, um gesehen zu werden.“

Und noch in seinem aktuellen Aufsatz schreibt er: „Die bisherige Eigenschaft eines Bildträgers, den Nachweis einer Authentizität sichtbar vorzuhalten, ist bei einem digitalen Bildträger – aufgrund eines fehlenden dafür notwendigen menschlichen Sinnesorgans – nicht mehr vorhanden. Denn das vermutete oder deklarierte Abgebildete auf dem Bildträger ist ohne technologische Hilfsmittel nicht wahrnehmbar.“ Oder: „Für den Fotografen ist mit dem Belichten des Negativs der Vorgang des Festhaltens weitgehend beendet. Doch für das digitale Bild beginnt hier erst die Bildherstellung.“

Das sind nun als Text eines Fotografen mit Dunkelkammererfahrung sehr merkwürdige Sätze. Lassen wir mal alle subjektiven Entscheidungen eines Dokumentarfotografen unberücksichtigt, die vor dem Augenblick liegen, wo er auf den Auslöser drückt (oder dies vielleicht auch nicht tut) – was er auf Film bannt, ist in der Tat „objektiv“ und in der Betrachtung des fertigen Bildes eine visuelle Entsprechung der aufgenommenen Szene.

Aber Arnold wird sich ja gewiss daran erinnern, dass es nicht ratsam war, den belichteten Film aus der Kamera zu nehmen, um nachzuschauen, ob die Fotos gelungen waren. Dem Licht ausgesetzt, wären sie verschwunden. Dass also das „Abgebildete auf dem Bildträger […] ohne technologische Hilfsmittel nicht wahrnehmbar“ sei, galt damals wie heute, wenn auch völlig anders realisiert.

Doch das war ja nur der erste Schritt. Gesehen haben Betrachter nicht das Negativ, sondern das auf seiner Basis entwickelte Positiv als Papierbild und im Druck. Negative sind zwar in der Tat „glaubwürdiger“ als Digitalbilder, aber sie waren selten direktes Objekt der Wahrnehmung.

Ich erinnere mich gut an zahllose Ratgeber-Bücher mit Geheimtipps oder Fotoseminare an der Kunsthochschule, in denen gezeigt wurde, was man alles aus einem Negativ „herausholen“ kann. Insbesondere bei Farbfotos stand da am Ende ein breites Spektrum von Varianten, die alle auf dasselbe Negativ zurückgingen, aber völlig unterschiedlich aussahen: Spezielle Entwicklerlösungen, Temperaturen, Dauer der Bäder, aber auch – noch heute in Photoshop verfügbar – Techniken zum Nachbelichten und Abwedeln, Kippen der Filmbühne. Dass die Normfarbe des Maskierungsmodus in Photoshop noch heute Rot ist, ist ebenso wenig ein Zufall und geht auf damalige Maskenfolien zurück.

Und das ist noch nicht alles. Selten war das fertige Positiv perfekt. Schon in den 1960er Jahren gab es weit verbreitete Ratgeber wie den von Otto Croy „Retusche von heute. Schwarz-weiß und farbig“, die bis in den Bereich der Montage durch geschichtete Negative oder Maskierungen reichten. Also nichts von wegen „nicht verschobene Lichtspur“, wie Arnold immer wieder postuliert.

Durchaus richtig sind dagegen seine späteren Einschätzungen etwa hinsichtlich der Abhängigkeit von wenigen Fotoagenturen bei stetigem Abbau eigener Fotografen von Druckmedien: „Der tagesaktuelle Markt für freie Fotojournalisten ist weitgehend verschwunden und die ästhetische wie inhaltliche Bildervielfalt reduziert sich beständig. Fotografiert wird hier konfliktbereinigt und kritikfrei, um auch bei der nächsten Gelegenheit mit dem Regierungsflieger mitreisen zu können …“

Angemessen ist auch seine Kritik an der aktuellen Entwicklung, wobei fotografische Rohdaten bereits in Handy oder Kamera an einen durchschnittlichen Geschmack angepasst verschönert und geglättet werden.

Wenn er allerdings schreibt: „Das Vertrauen in die analoge Fotografie ergab sich nicht nur durch den Publizierenden oder den Fotografen, sondern verdankte ihre Provenienz wohl auch dem logischen Schluss der damaligen Betrachter, dass der Aufwand der Manipulation größer wäre als die möglichen Geldeinnahmen“, so darf man bezweifeln, dass sich viele Betrachter über diese Möglichkeiten überhaupt Gedanken gemacht haben und davon auch nur wussten. Die Fotofälschungen unter Stalin und Hitler waren ja nur in ihren Ergebnissen, aber nicht in ihrem Zustandekommen bekannt, wenn überhaupt. Und gerade wo es um „Geldeinnahmen“ ging, wurde heftig und oft unübersehbar retuschiert: In der Werbung, bei Produktabbildungen  oder auf Titelseiten der Illustrierten.

Die Befürchtung „Wer kann über ein im Netz verfügbares Foto in 100 Jahren noch mit Sicherheit sagen, dass es nicht die Imitation einer Fotografie ist?“ ist zwar durchaus richtig – das unterscheidet sich aber wenig von der Aussagekraft von Bildern vor der Verbreitung der Fotografie.

Aber sicherlich stimmt ebenso: „Man muss auch kein Hellseher sein, um sich vorzustellen, wie mit den heutigen Mitteln Geschichtsrevision betrieben werden kann, wenn totalitäre Staaten diese nutzen können oder wenn demokratische Systeme zu autokratischen werden.“

Vor allem in Hinblick auf KI-generierte Bilder gelangt Arnold später zu der Einschätzung: „Die Wahrnehmung von Fotografien als Zeitkapsel verändert sich.“ Er bezieht sich damit auch auf den Mediensoziologen McLuhan, dessen These noch heute diskutiert wird: „Das Medium ist die Botschaft“. Allerdings würde das in der Anwendung auf digital manipulierte oder per KI generierte „Fotos“ weniger bedeuten, dass wir immer mehr auf Bilder hereinfallen, die keine Fotos sind, und sie für authentisch halten – sondern im Gegenteil, dass wir überhaupt keinen medial verbreiteten Bildern mehr trauen. Unterm Strich ist das allerdings für die Entwicklung einer Demokratie genauso gefährlich, weil dann auch die echten Fotos nicht mehr als visuelle Belege tatsächlicher Ereignisse wahrgenommen würden.

Denn zu Recht postuliert Arnold: „Das Vertrauen in die Authentizität einer dokumentarischen Fotografie ist fundamental für eine Demokratie.“ Was aber offensichtlich nicht bedeutet, dass nun die Dokumentarfotografen wieder Filme in Analogkameras spulen und sie später in der Dunkelkammer entwickeln würden. Die ausschlaggebenden Aspekte sind also offenkundig ganz andere.

Schade ist, dass er sein Buch ausgerechnet mit einem völlig unpassenden und falschen Beispiel abschließt: „Warum war eigentlich eines der interessantesten dokumentarischen Fotos der letzten Jahre das Bild von einem Schwarzen Loch, das von einem Team um den Astrophysiker Heino Falcke zum ersten Mal fotografiert wurde und diese Abbildung so uneingeschränkt für glaubwürdig eingeschätzt?“ Dabei ist dieses „Foto“ der beste Beleg dafür, dass etwas – selbst mit hypothetischen Super-Teleskopen – gar nicht Wahrnehmbares erst durch hochkomplizierte technische (digitale) Prozesse und als Ergebnis monatelanger Rechenzeit überhaupt sichtbar gemacht werden konnte. Fotografieren ließe sich dieses Schwarze Loch nie; die verwendeten Wellenlängen lagen um etliche Größenordnungen über denen des sichtbaren Lichts. Damit zeigt dieses „Foto“ eher die faszinierenden Möglichkeiten der digitalen Bildverarbeitung als ihre Gefährlichkeit.

Bernd Arnold
Die Welt der Neuen Bilder. Dokumentarische Fotografie ud KI
morisel Verlag 2023
143 Seite, Broschur
19,90 Euro

 

 

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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8 Kommentare

  1. Tja, wenn ein erfahrener Fotograf nicht weiß, dass man das durch die Belichtung einer Silberhalogenidemulsion entstandene latente Bild noch gar nicht sehen kann (selbst wenn man die Kamera gefahrlos öffnen könnte, weil man Licht einer Wellenlänge nutzt, für die die Emulsion nicht empfindlich ist) und ein sichtbares Bild erst durch die Entwicklung entsteht …

    Das „Foto“ des Schwarzen Lochs wurde übrigens von drei Teams unabhängig voneinander aus den von mehreren Radioteleskopen über eine längere Zeit gesammelten Daten berechnet. Auf diese Weise wollte man sicherstellen, dass man nicht am Ende ein bloßes Artefakt des Rechenverfahrens sieht. Da die drei nach im Detail unterschiedlichen Methoden berechneten Bilder aber praktisch identisch waren, konnten sich die Astronomen sicher sein, dass ihnen eine getreue Abbildung gelungen war.

    1. Das war in der Tat etwas ungenau formuliert. Ich bin von dokumentarischer Fotografie im weitesten Sinne ausgegangen (um die geht es hier in der Hauptsache) und die versuchen der Wirklichkeit eher näher als zu kommen als fern. Das heißt man kann davon ausgehen, dass „normale“ Verfahren der FIlm-Entwicklung angewendet werden und man als Fotograf nach einigen tausend selbst entwickelten SW-Filmen eine sehr genaue Vorstellung davon haben sollte, wie das belichtete Negativ beschaffen ist. Also: Es geht um das belichtete Negativ, dessen aufgenomme Lichtspur einer vergangen Wirklichkeit NACH der Entwicklung sichtbar ist.

      Das mehrere Teams an der Sache dran waren, war für mich 2020 (Textpassage geschrieben) noch nicht eindeutig feststellbar, da es in dieser Zeit noch Streiteren gab und mir der Wissenschaftsbetrieb unbekannt ist. Mir schien das genannte Team wohl am ehesten zuständig. Vielen Dank für den Hinweis!
      Man muss die Passage allerdings im Zusammenhang mit der ersten Fotografie (1826) von Niecéphore Niépce sehen. Bei der es nicht um Pixel oder Film ging, sondern um die ungeahnten (faszinierenden) Bildwelten, die beide Verfahren enthalten. Leider ist da ein Leerzeile im Text gewesen. (Das zum Thema Bedeutungen von Leerzeilen und Absätzen):
      „Wahrscheinlich konnte sich Niecéphore Niépce nicht einmal erträumen, welches Universum an Fotografien in den nächsten 200 Jahren entstehen würde. Niemand hätte sich das wohl seinerzeit in dieser Dimension vorstellen können.
      Warum war eigentlich eines der interessantesten dokumentarischen Bilder der letzten Jahre das Bild von einem Schwarzen Loch, das von einem Team um den Astrophysiker Heino Falcke zum ersten Mal fotografiert wurde und diese Abbildung so uneingeschränkt für glaubwürdig eingeschätzt? Ist es nicht erstaunlich, dass die neue weltumwälzende Digitalisierung die Abbildung eines Objektes ermöglicht, welches das Licht komplett verschluckt und das, was man zu sehen glaubt, nicht sichtbar ist?
      Und während ich das Abbild des unbearbeiteten Originals der ersten Fotografie aus dem Jahr 1826 und das erste Bild eines Schwarzen Lochs aus dem Jahr 2019 vergleiche und mich bemühe, darin etwas zu erkennen, frage ich mich, welches Universum der Bilder die Menschheit die nächsten 200 Jahren erwarten wird?“ (Die Wellt der Neuen Bilder, S. 123)

      1. Zu den Schwarzen Löchern und ihren Bildern: Ein Schwarzes Loch lässt definitionsgemäß kein Licht heraus, denn es kann dessen Ereignishorizont nicht überschreiten – einerseits. Andererseits entsteht am Ereignishorizont vermutlich die von Stephen Hawking postulierte Hawking-Strahlung, eine Wärmestrahlung, über die ein Schwarzes Loch langsam – sehr langsam – Masse verliert und am Ende „verdampft“. Diese Strahlung, wenn es sie denn gibt, wäre allerdings sehr schwach und unsere Instrumente sind noch nicht empfindlich genug, um ihre Existenz nachzuweisen. Wie die Hawking-Strahlung entsteht, ist schwer zu verstehen (ich habe es selbst nicht so richtig verstanden); es gibt eine populäre und plausibel erscheinende Erklärung, die Hawking selbst ins Spiel gebracht hatte, aber die ist falsch …
        Die Bilder Schwarzer Löcher, die das virtuelle „Event Horizon Telescope“ oder vielmehr die mit dessen Daten gefütterten Computer erzeugen, haben auch nichts mit der Hawking-Strahlung zu tun. Es empfängt stattdessen die elektromagnetische Strahlung, die stark aufgeheizte Materie kurz vor ihrem Sturz in das Schwarze Loch, also dem Überschreiten des Ereignishorizonts, erzeugt. Das „Event Horizon Telescope“ bildet nicht das Schwarze Loch selbst ab, sondern was in dessen Umgebung geschieht. Der Ereignishorizont, also die Begrenzung des eigentlichen Schwarzen Lochs, ist noch kleiner als der durch dessen Gravitation erzeugte „Schatten“ im Zentrum der Doughnut-förmigen Abbildungen.
        Die acht einzelnen Radioteleskope des virtuellen „Event Horizon Telescope“ registrieren Mikrowellen mit einer Wellenlänge von 1,3 Millimetern, die rund 2600 mal so lang wie die des grünen Lichts ist. Um die weit entfernten Schwarzen Löcher (oder vielmehr deren unmittelbare Umgebung) abzubilden, ist eine extrem hohe Auflösung nötig. Die Auflösung eines Teleskops hängt von der Wellenlänge (je kürzer die Wellenlänge, desto höher die Auflösung) und seiner Öffnung ab (je größer der Durchmesser des Spiegeln, desto feiner löst er auf). Selbst für die Abbildung eines relativ großen und relativ nahen Schwarzen Lochs im Zentrum unserer oder einer benachbarten Galaxie wäre ein Radioteleskop mit der Größe der Erde nötig, dessen Bau natürlich nicht praktikabel ist.
        Das „Event Horizon Telescope“ realisiert eine ebenso große virtuelle Öffnung, indem es ausnutzt, dass es Radioteleskope auf verschiedenen Kontinenten gibt, die ihre Position zudem mit der Erdrotation ändern. Die Signale, die von den jeweils dem beobachteten Schwarzen Loch zugekehrten Teleskope im gleichen Zeitraum empfangen werden, werden mit von Atomuhren erzeugten exakten Zeitstempeln versehen und digital aufgezeichnet. Aus den minimalen Phasenverschiebungen der Signale lässt sich mit aufwendigen Berechnungen ein Bild erzeugen, dessen Auflösung der eines Teleskops von Erdgröße entspricht.
        Ist das nun Fotografie? Sie ist es in dem Sinne, in dem auch IR- und UV-Bilder als Fotografien angesehen werden können, oder gar Röntgenbilder, deren Wellenlänger kürzer als ein 50stel der des grünen Lichts ist. Wir bilden nicht mit sichtbarem Licht ab, aber immer noch mit Photonen.
        Der Weg von den empfangenen Signalen zum Bild ist allerdings komplexer als in der gewöhnlichen Digitalfotografie. Die Sensorpixel einer Digitalkamera zählen die auftreffenden Photonen, indem sie die dabei freigesetzten Elektronen sammeln; diese elektrische Ladung wird nach dem Ende der Belichtung in eine elektrische Spannung umgewandelt und diese Spannung digitalisiert. Damit sind wir sogar schon näher am letztendlich erzeugten Bild, als es das latente Bild in einer Silberhalogenidemulsion wäre. Zwischen der Lichtmenge, der elektrischen Ladung und der elektrischen Spannung gibt es einfache analoge Zusammenhänge, wie wir sie in den Daten des „Event Horizon Telescope“ nicht finden, aber auch wenn die Beziehung zwischen Daten und Bild ungleich komplexer ist, ist sie doch ebenso exakt.

  2. Eine höchst interessante Thematik, die eine der heute wichtigsten Frage aufs Tapet bringt: Was ist Fotografie, in Zeiten der grenzenlosen Relativierung von allem, noch wert? Spielt der ‚Wahrheitsgehalt‘ von Fotos überhaupt noch eine Rolle, oder gilt der Grundsatz ‚anything goes‘?

    1. Exakt um diese Fragen geht es im Buch. Was ist die eigentliche Stärke Fotografie? Was führte seit der Renaissance dazu, dass Fotografien überhaupt als authentisch wahrgenommen wurden? Was versteht man eigentlich unter Authentizität? Ab wann ist eine Foto noch Fotografie? Was hat sich mit der Digitalisierung in der Fotografie verändert? Ab wann ist Fotografie nur noch eine Imitation (Dichografie?) von Fotografie? Und wie gehe ich als Berufsfotograf, der alle Entwicklungen seit 1983 praktizierend durchgearbeitet mit dem neuen Phänomen der KI-generierten Bilder um? Wo liegt die Zukunft der dokumentarischen Fotografie und der synthetischen Bilder?

  3. Essays sind nun einmal Essays … Gedanken, über die gesprochen werden soll.
    Also ist es müssig, aus der Ferne mehr oder weniger hochnäsig über dessen Texte drüberzufahren.

    1. Ja, was nun – drüber sprechen oder nicht? Wenn „drüber sprechen“ bedeutet, allem, auch offenkundig Fragwürdigem, begeistert nickend zuzustimmen, dann habe ich mich in der Tat schuldig gemacht. Ich hatte aber immer ein etwas anderes Verständnis von der Funktion einer Buchrezension.
      Andererseits: Da auch meine Buchbesprechung ein Essay ist, sind nun Sie es, der aus der Ferne mehr oder weniger hochnäsig über meinen Text gefahren ist. Das offenbart einen gewissen Widerspruch …
      Sie dürfen mich jederzeit gern kritisieren – aber dann wäre es hilfreich aufzuzeigen, was an meinen Argumenten sachlich falsch ist, statt pauschal und undifferenziert – nun, eben drüberzufahren.

  4. Wenn ich eine Arbeit publiziert habe, sei es fotografisch oder textlich (in diesem Fall Text UND Bild) ist es immer wieder verblüffend zu sehen, wie die Perspektiven und Haltungen der Betrachter hindurchscheinen. Das ist gut, auch wenn ich meine Arbeit manchmal missverstanden sehe oder andere Perspektiven thematisiert sind.

    Erst einmal vielen Dank für die Betrachtung der Essays und Bilder des Buches. Als langjähriger Berufsfotograf sind sie mir als Photoshop-Experte seit den 1990er Jahren bekannt (sozusagen eine Legende). In meiner Arbeit habe ich natürlich die meisten technologischen Möglichkeiten der Gestaltung in der Dunkelkammer, die Praxis im Fotojournalismus wie auch der Kunst ausgiebig kennengelernt habe und viele der grundlegenden Entwicklungen der digitalen Fotografie im praktischen Einsatz genutzt (seit 2003 fotografiere ich nur noch digital). Deshalb möchte ich hier aus dieser Perspektive auf ihre Anmerkungen gerne eingehen.

    Gerade wegen meiner ausgiebigen analogen UND digitalen Arbeit ist der Ankerpunkt meiner Essays folgende Frage: Kann die Wahrnehmung einer Authentizität der Fotografie durch die Digitalisierung bis hin zu den KI-Imitaten der Fotografie bzw. synthetischen Bildern verloren gehen. Diese Frage kann man eindeutig mit „Ja“ beantworten, wenn man ein Vorhandensein einer Authentizität der Fotografie voraussetzt. Meist kommt dann der Einwand, Fotografien wurden doch schon immer manipuliert. Dabei wird im nächsten Schritt meist Bildspeicherung, Bildbearbeitung und Fotomontagen/Collagen durcheinander gewürfelt und kommt zum Schluss: In Fotografien gibt es keine Authentizität.
    Doch würde man das auch von einem analogen Röntgenbild einer Zahnreihe behaupten? Oder von einem Handabdruck als Fotogramm? Oder von den Fotografien Lee Millers, die sie im KZ Buchenwald machte? Wahrscheinlich nicht, aber warum? So stelle ich die hypothetische Frage, ob man rückblickend Authentizität noch bewerten könnte, wenn (hier beispielsweise) Lee Miller vor fast 80 Jahren schon digital fotografiert hätte und seinerzeit schon Millionen KI-generierte Imitationen von Fotografie in allen Variationen im Umlauf gewesen wären? Ich finde diese Vorstellung interessant, die ich ja auch mit dem Bild eines Mannes mit Smartphone im Jahr 1920 generiert, illustriert habe. So stellt sich die weitere Frage, warum nimmt man eine analoge Fotografie Lee Millers oder anderer aus der Zeit überhaupt als authentisch wahr?
    Dem nachgegangen lässt sich feststellen, dass die Wahrnehmung einer Authentizität von Fotografie nicht erst mit ihrer Erfindung eintrat, sondern ihren Anfang mit der Renaissance fand, in der Menschen nicht mehr Gott, sondern die physisch vorhandene Welt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte. Die Malerei löste sich von der mittelalterlichen Bedeutungsperspektive und begann mit der Entdeckung der Zentralperspektive Wirklichkeiten zu dokumentieren. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit veränderte sich und dementsprechend auch die Wahrnehmung und Produktion von Bildern. Hier führe ich dann Beispiele an, die das dokumentarische Wesen der Malerei als wichtige Strömung markiert. Das Entstehen des Dokumentierens mit Malerei hat überhaupt erst den Wunsch nach einer Erfindung eines fotografischen Verfahrens geweckt. Fotografie ist die Perfektion dieser technologischen Dynamik gewesen. Die Fähigkeit der Wahrnehmung einer Authentizität in einer Fotografie war ein langer kultureller Prozess.

    Ein weiterer Aspekt im Diskurs über eine Authentizität der Fotografie zeigt sich seit ihren Anfängen spätestens mit der gescheiterten Kunstphotographie (ca. 1890–1920). Es ist das Dilemma zwischen Kunst und technischer Reproduktion, kreatives Subjekt und kalte ausführende Technik. Einerseits geht es um die Freiheit der künstlerischen Gestaltung, in der alles möglich sein muss, und anderseits wird nicht angezweifelt, dass Fotografien als Dokument für einen demokratischen Diskurs, der auf Fakten beruhen sollte, notwendig ist. Dieses Dilemma der Gegensätzlichkeit wird seit den Anfangstagen der Fotografie immer wieder in neuen Gewändern sichtbar.

    Es geht also nicht um die Bewertung, ob Pixel oder Film nun gut oder böse sind, sondern was sich in der Wahrnehmung von Fotografie verändert, wenn Imitationen von Fotografien, die ich Dichografien nenne, die medialen Kanäle fluten. Denn das bringt erhebliche Veränderungen im Beruf mit sich, die ich ja auch ausführlich schildere. Von daher ist ihr „Selbstportrait“ (oben) in vielerlei Hinsicht ein hervorragendes Beispiel, was sich mit dem neuen Phänomen der Dichografien grundlegend verändern wird. Denn bei der Betrachtung stellen sich folgende Fragen: Ist es eine Fotografie oder eine Dichografie? Was davon ist real als Lichtspur vorhanden gewesen, montiert oder synthetisch? Ist es Dokument oder Fiktion? Wann entstand das Bild? Vor 30 Jahren oder heute? Wer kann mir Auskunft geben? Wer wird in 50 Jahren Auskunft geben?
    In diesen Fragen liegen die Antworten zu einer Authentizität der Fotografie. Und spätestens, wenn vor 20 Jahren der Zahnarzt ein analoges Röntgenbild vorzeigte, um zu belegen, dass der Zahn gezogen werden muss, verblassen alle Zweifel über die Authentizität des Bildes. Übrig bleibt dann nur der Zweifel an der Diagnose – also der Interpretation der visuellen Spur.

    Ich könnte jetzt noch auf weitere Punkte eingehen, aber das führt zu weit…

    Nochmals Dank und viele Grüße!

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