Falsche Bildkritik?
Seit zehn Jahren nimmt Doc Baumann in seiner DOCMA-Rubrik fehlerhafte Bildmontagen aus den Medien unter die Lupe. In Heft 73 kritisierte er eine Anzeige der Telekom – weniger wegen eines Montagefehlers, sondern aus astronomischen Gründen. Darf die Sonne an dieser Stelle stehen? War das eine falsche Bildkritik? Ein Gutachten der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA schafft nun Klarheit.
Zur Vorgeschichte: Doc Baumann hatte behauptet: „Wieder einmal war es eine dieser großen, doppelseitigen und entsprechend teuren Anzeigen, in der sich ein gigantischer Montagefehler versteckte; diesmal im Stern und von der Telekom in Auftrag gegeben. »Gigantisch« ist hier wörtlich zu nehmen – das fragliche Objekt hat immerhin einen Durchmesser von fast 1,4 Millionen Kilometern. Und es steht an einer Stelle, wo es einfach nicht hingehört.
Unsere liebe Sonne – denn um die geht es hier – erscheint von der Erde aus gesehen auf einer Kreisbahn – Ekliptik genannt –, auf der sie täglich von Ost nach West wandert. Daran ändert sich nichts, wenn wir uns auf einen sehr hohen Berg, in ein Flugzeug oder sogar weit hinauf in die Erdumlaufbahn begeben: Sie geht scheinbar im Osten auf und im Westen unter; „scheinbar“ deswegen, weil nicht sie, sondern die Erde sich bewegt. Wenn wir also von Süden, hoch über Afrika, gen Norden blicken, könnten wir sie nie dort sehen.
Auch wenn es die Telekom offenbar sexy findet, sich deutschen Zeitschriftenlesern und möglichen Kunden in Englisch mitzuteilen: Sonne im Norden geht gar nicht.“
Falsche Bildkritik – Telekom-Mitarbeiter zweifeln
DOCMA-Leser Daniel Kaufmann arbeitet bei der Telekom und wollte ganz genau wissen, ob diese Kritik zutrifft. Kann die Sonne an dieser Stelle stehen oder nicht? Und so schrieb er uns:
„Hallo, bei mir/uns hat das Bild eine rege Diskussion ausgelöst, ob das Bild so möglich gewesen wäre oder nicht. Mit Spielbällen als Sonne und Erde Ersatz haben wir versucht, das Modell nachzustellen, mit dem Ergebnis, dass wir es nicht lösen können. Der eigentliche Dank für die Lösung der Frage geht an unser »Nachbarunternehmen« ESA/ESOC. Die Mitarbeiter dort haben unsere Fragestellung freundlicherweise aufgegriffen und wirklich sehr gut erklärt. Mit besten Grüßen aus Darmstadt …“
Falsche Bildkritik? Ein Fachmann löst das Problem
Michael Khan von der ESA hat sich dieser Frage angenommen. Er ist seit 2001 Missions-Analytiker des ExoMars-Programms. Für DOCMA hat er seine Ergebnisse zusammengefasst (vielen Dank dafür!):
„Man hat mir ein Bild aus einer Werbeanzeige der Telekom mit einem Astronauten im Raumanzug gezeigt, der im Weltraum schwebt. Im Hintergrund sieht man die Erde, und zwar unten im Bild Nordafrika, darüber Europa, mit hell erleuchteten Städten, so wie man sie von Bildern aus dem Weltraum kennt. Die Blickrichtung ist Norden. Ganz weit im Norden sieht man die Sonne direkt am Horizont.
Man hat mich gefragt, ob es die gezeigte Situation so wirklich geben kann. Das ist genau die Art Frage, die mir gefällt. Ich bin selbst Fotograf, Astronom und Raumfahrtingenieur. Also interessiert mich diese Frage gleich dreifach. Ein Ingenieur rechnet Dinge aus. In diesem Fall braucht mal allerdings nicht mehr als nur Schulmathematik.
Der gezeigte Astronaut kam von der Internationalen Raumstation ISS, denn er (oder sie?) trägt einen Raumanzug aus der ISS. Die ISS fliegt in rund 400 km Höhe und zwischen 51.6 Grad nördlicher und südlicher Breite.
Weil die Erdachse geneigt ist, scheint die Richtung zur Sonne im Lauf des Jahres herauf und herunter zu wandern. Am 22. Juni (Sommersonnenwende) steht die Sonne 23.5 Grad nördlich vom Äquator. Wenn man sie im Norden sehen kann, dann an diesem Datum. Die eigentliche Berechnung beschreibe ich hier nicht im Detail, sondern nur die Ergebnisse, und zwar:
1.) Ja! Am 22.6. hätten ISS oder Space Shuttle die Sonne aus 400 km Höhe genau im Norden direkt am Horizont sehen können. Sie hätte sich dazu bei 46.7 Grad nördlicher Breite befinden müssen. (Wer das selbst nachrechnen will, braucht sich dazu nur an die Dreiecksberechnung in der Schule zu erinnern. Es ist nicht schwer.). 46.7 Grad ist weniger als 51.6 Grad – der nördlichste Punkt auf der Bahn der ISS. Bis hierhin ist das gezeigte Bild also nicht falsch.
2.) Aber! Aus 400 km Höhe kann man nur einen Umkreis von knapp 20 Grad sehen. Wenn man also bei 46.7 Grad nördlicher Breite über der Schweiz fliegt, sollte man bis über 66 Grad Nord hinauf und bis zu 27 Grad Nord hinunter blicken können, in Westen bis Irland, im Osten bis zur Ukraine. Weiter nicht. Upps. Da ist das Bild aber deutlich großzügiger, man sieht dort viel mehr von der Erde, als es aus 400 km möglicher wäre.
3.) Hinzu kommt: Die Position des „Beobachters“ im Bild ist ganz offensichtlich viel weiter südlich als 46.7 Grad Nord. Schätzungsweise über Nordafrika. Von so weit südlich kann man aber aus 400 km Höhe die Sonne unmöglich Richtung Norden am Horizont sehen. Das ist ganz ausgeschlossen.
Also: Wäre ich jetzt streng, müsste ich wohl sagen, dass bei der Erstellung des Bildes etwas zu viel künstlerische Freiheit in Anspruch genommen wurde, denn es zeigt eine Situation, die in der Realität nicht vorkommen kann.
Aber ist es gänzlich ausgeschlossen, dass eine solche Szene fotografiert wird? Nein, ganz und gar nicht: Um von einer Position über Nordafrika die Sonne am Norden und dazu noch so viel von der Erdoberfläche zu sehen, müsste das Raumschiff einfach viel höher fliegen. Mindestens 2000 km. Die ISS fliegt nicht so hoch, aber vielleicht ist dies gar nicht die ISS? Zukünftige Raumschiffe werden das bestimmt (na gut, problematisch ist allerdings, dass man in 2000 km Höhe schon mitten in den Strahlungsgürteln um die Erde steckt).
Vielleicht ist das des Rätsels Lösung? Die Szene soll einen Raumfahrer in der Zukunft zeigen. Dann wäre wieder alles in Ordnung . Bis auf das Strahlungsproblem …“
Eine Science-fiction-Illustration? Wie weit geht künstlerische Freiheit?
Doc Baumann war an einer anderen Stelle seines Textes genau auf dieses Problem eingegangen (ohne allerdings die astronomischen Gegebenheiten so exakt analysiert zu haben):
„Nun schrieb mein Kollege Olaf Giermann kürzlich im Blog auf docma.info: ‚Wenn Sie eigene Bilderwelten erschaffen, lassen Sie sich nicht in ein Korsett aus feststehenden Glaubenssätzen zwängen, darüber was geht, was ginge und was nicht ginge. […] Und wenn Sie gerne 20 Sonnen in Ihrem Bild haben möchten, Planeten, Monde und Galaxien auf die gleiche Entfernung und Helligkeit ziehen wollen – dann tun Sie das‘.
Olaf ist da vielleicht großzügiger als ich. Bei freien Fantasy-Illustrationen geht (fast) alles; schon bei Science-Fiction wäre ich zurückhaltender. Die Telekom-Anzeige ist aber weder das eine noch das andere. Sie ist schlicht falsch.“
Ist sie nun wirklich falsch? Diese Frage lässt sich offenbar sowohl mit einem „Ja, aber …“ wie mit einem „Nein, aber …“ beantworten.
Falsche Bildkritik? Ein alternativer Zugang
Auch Doc Baumanns astronomiekundiger Freund Peter Winkler aus Berlin hatte auf seine Bitte hin über das Problem nachgedacht und schrieb:
„Wenn der Punkt am Erdrand/Horizont, an dem sich die Sonne befindet, innerhalb des Polarkreises liegt, dann ist die Sonne vom abgebildeten Gesichtspunkt aus auf jeden Fall zwischen Frühlingsanfang und Herbstanfang sichtbar. Grund: In dieser Periode ist von jenem Punkt aus die Sonne immer sichtbar (geht nicht unter). Insbesondere gilt das auch für die Nordrichtung. Für andere Zeiten und andere Berührungspunkte ist die Beurteilung nur mit Rechnen möglich.
Das gleiche gilt für einen Beobachter, der auf der Erde steht (zum Beispiel in Nordschweden), wie für einen, der vom Mond aus guckt.
Praktisch kann man auf Fotos allerdings nur sehr ungenau erkennen, an welchem Punkt auf der Erdkugel der Sehstrahl vom Auge des Beobachters zur Sonne die Erde tangiert.“
Falsche Bildkritik! Jedenfalls vom südlichen Afrika aus
Einen ganz anderen Ansatz wählte DOCMA-Leser Harald Lüth aus Swakopmund, wo die Sonne durchaus im Norden steht:
„Sehr geehrter Doc Baumann, dem Satz: ‚Wenn wir von Süden, hoch über Afrika, gen Norden blicken, könnten wir sie nie dort sehen‘ , muss ich widersprechen, obwohl von Ihnen sicher die Werbeaufnahme gemeint ist.
Die Erde bewegt sich um die Sonne, und die wandert zwischen den Wendekreisen Krebs und Steinbock. Am 21. Juni erreicht sie den Wendekreis des Krebses auf 23.5 Grad Nord und am 21. Dezember auf 23.5 Grad Süd steht sie am Wendekreis des Steinbocks im Zenit. Wenn ich von Deutschland aus die Sonne beobachte, steht sie immer im Süden, im Norden ist sie nie zu sehen. Wenn man aber von Kapstadt aus die Sonne verfolgt, ist sie im Süden nie zu sehen und steht mittags im Meridian genau im Norden. Dazu muss man nicht auf Berge steigen.
Ich bin aber Ihrer Meinung, das Foto von der Telekom ist misslungen, weil die Sonne dort einfach nicht hinpasst. Ich fühle mich wie in einem Katastrophenfilm, wo die Erde aus der Bahn geschmissen wurde und das Ende der Menschheit naht.“
Natürlich war der Satz mit der im Norden nicht sichtbaren Sonne direkt auf die Anzeige bezogen gewesen, wo der Betrachter irgendwo über Nordafrika – also weit nördlich des Äquators – schwebt. Klar, dass der Sonnenverlauf auf der südlichen Halbkugel seinen höchsten Punkt im Norden erreicht.
Schwierige Bildkritik
Klare Verstöße gegen die Regeln der Perspektive oder des Schattenwurfs sind vergleichsweise einfach festzustellen. Bei anderen Merkwürdigkeiten ist das weniger eindeutig. Da kann es also schon einmal vorkommen, dass der Kritiker mit seinen Anmerkungen danebenliegt. (Obwohl die Fälle, in denen das in den zehn Jahren vorgekommen ist, seit es diese Rubrik gibt, an einer Hand abzählbar sind.)
So komplex wie in diesem Fall ist die Sache allerdings selten. Obwohl auch bei grenzwertig-fragwürdiger Beleuchtung oder Perspektive schon mal ein bisschen gerechnet und konstruiert werden muss, bevor sich klar sagen lässt, ob eine Montage richtig oder falsch ist.
Dabei versteht sich die Bildkritik keineswegs als Erbsenzählerei, die sich mit Triumphgeschrei auf jede winzige Abweichung stürzt. Im Gegenteil: Vieles von dem, was aufmerksame Leser/innen als mangelhaft montierte Bildbeispiele einsenden, erweist sich bei genauerer Betrachtung als entweder richtig oder zwar falsch – aber unter kommunikativen Aspekten angemessen. Jeder „Fehler“ ist verzeihlich oder sogar „richtig“, wenn er nicht aus Unwissenheit unterläuft, sondern gezielt eingesetzt wird, um die Aussage eines Bildes zu unterstützen. Das gern bemühte Argument, dabei sei „künstlerische Freiheit“ im Spiel gewesen, ist bei einer ansonsten fotografisch und realistisch wirkenden Montage allerdings zu schwach.
Insofern wäre – anders als unser Leser aus Swakopmund das einschätzt –, die Sonne im Norden als dramatisches Element der Bildkomposition durchaus vertretbar. Und das relativ unabhängig davon, ob sie nun an dieser Stelle stehen darf oder nicht.
Leva Jott……ich glaube sie haben zu viel Zeit….lach…
Das ist doch nur olle Werbung – nicht mehr und nicht weniger. Darüber so einen langen Artikel zu schreiben käme mir nie in den Sinn.
Eine Frage stelle ich mir mittlerweile eh immer häufiger. Was ist noch echt? Jedes Bild, jeder Artikel oder auch Film und Nachrichten, in allem finden wir Wahrheit und Lüge. Es wird immer anstrengender zu glauben da man erst recherchieren muss um etwas so zu akzeptieren wie es gezeigt, geschrieben und gesagt wird. Da ist mir eine Sonne im Weltall nicht wichtig.
Grüßli
Oh doch, für Leser/innen eines Bildbearbeitungsmagazins ist es durchaus wichtig, keine Montagefehler zu machen – sei es bei Perspektive, Beleuchtung, Schattenwurf … oder auch Plausibiltät und Stimmigkeit. Das kann man z.B. durch DOCMA-Tutorials lernen, aber auch dadurch, dass man den eigenen Blick durch Fehler anderer schärft. Und dazu ist meine Bildkritik seit zehn Jahren da. Diese Sonne ist da nur ein Beispiel. Aber gesamtgesellschaftlich, da haben Sie recht, ist die Frage nach der Zuverlässigkeit von Nachrichten und Bildern noch viel wichtiger. Aber darauf gehe ich im Blog ja immer wieder ausführlich ein.
Viele Grüße, DocB
Ich habe schon verstanden warum sie das machen und worauf sie hinaus wollen. Aber speziell bei diesem Bild kann man nur als Fachmann der Astronomie oder Profi als Bildbearbeiter wissen das die Sonne so nicht scheinen oder dort sein kann.
Ich habe dieses Bild hier erstmals gesehen und ich habe mich spontan gefragt wieso es Nacht auf der Erde ist aber die Sonne scheint. Da ich aber keine Ahnung von der Materie habe, habe ich das auch nicht in Frage gestellt. Was man nicht weiß muss man glauben.
Ich lese erst seit kurzem hier und finde ihren Blog sehr amüsant.
Grüße aus Thailand
Coffy
Da haben Sie durchaus recht, es ist ein besonderer Fall und dem allergrößten Teil der Betrachter fiele es nicht auf. Aber ich bin kein Astronomie-Profi und dennoch ist es mir trotzdem aufgefallen. Es gibt zahllose Spezialfälle, wo keiner merkt, dass es daneben ging – aber die wenigen, die es wissen, finden es peinlich daneben. Mir ging es auch mal so: Ich hatte eine Montage gelobt mit der korrekten Spiegelung eines Konzertflügels. Dann klärte mich ein kundiger Leser darüber auf, dass der ganze Flügel seitenverkert montiert war: mit den hohen Tönen links und den tiefen rechts. Danach habe ich es dann auch gesehen. Natürlich kann man nicht alles wissen – aber wenn man ein sehr spezielles Motiv behandelt, muss man sich halt kundig machen, weil damit zu rechnen ist, dass es sich speziell an Betrachter richtig, die Bescheid wissen.
Viele Grüße, Doc B.
Jetzt muss ich schmunzeln. Und aus dieser Sicht betrachtet macht es natürlich Sinn wirklich alles unter Lupe zu nehmen bevor man ein Bild einer Kritik unterzieht.
Das ihnen das nicht nochmal passiert ist sicher…lach….
Dank ihrer Offenheit werde ich jetzt selber mehr darauf achten wann eine Kritik angebracht ist. Und wenn man nicht Bescheid weiß: Im Zweifel für den Angeklagten.
Liebe Grüße
Coffy
Hallo Doc !
Bei der Betrachtung dieser Montage ist ihnen die Regel „… im Norden ist sie nie zu sehen.“ eingefallen und sie haben gedacht, dass ist doch mal wieder ein prima Beispiel für eine falsche Montage. Dass die Montage dann garnicht so falsch war, hat ja Herr Khan schon vorgerechnet – hätte ihnen aber auch jeder Mensch, der schon mal im Sommer nördlich des 66.Breitengrades war, sagen können.
Der viel größere Fehler an dem Bild ist der Text. Die Telekom bringt es nicht auf die Reihe, einen vernünftige Mobilfunk in unserem Dorf zu installieren.
Na ja, ganz so einfach ist es nicht. Denn das Gutachten von Herrn Khan belegt ja durchaus, dass ich teilweise recht habe, weil aus der Höhe der ISS die Sonne dort eben nicht zu sehen wäre. Und in Schweden war ich auch schon mal …
Hallo Doc,
ich lese hier ja schon so lange mit, aber bei dem Thema musste ich mich jetzt wirklich registrieren um meinen Senf hier dazuzugeben.
Also: es gibt da so ein hübsches Freewareprogramm namens „Celestia“, eine 3D-Weltraumsimulation.
Damit hab ich folgenden Screenshot gemacht: http://www.wikiupload.com/FKT4QPZ9XC01PU4 (wenn der Link hier erlaubt ist)?
Ab 2000km Höhe ist also der Rundumblick auch über Afrika möglich.
Gruß Jah Lee
Ups, ein Link zum Bild wäre besser gewesen.
http://www.bilder-upload.eu/show.php?file=711e0b-1486591414.jpg
Aber jetzt.
Gruß Jah Lee
Danke für die Darstellung!