Neben der Ikonographie des Christentums und der Antike existiert eine weniger vertraute Bildwelt verschiedener Geheimlehren, die ebenfalls eine wichtige Inspirationsquelle für Kunst und Literatur war, die Bilderwelt der Esoterik. Der Bildband „Mystik & Alchemie“ führt in die Themen und Motive von Alchemisten, Kabbalisten, Freimaurern, Rosenkreuzern, Gnostikern und anderen Esoterikern ein.
Die schönsten Geschenke sind ja meist die, mit denen man nicht rechnet, und mit Alexander Roobs „Alchemie & Mystik“ aus dem Taschen Verlag hatte mich eine Person, die mich sehr gut kennt, zu Weihnachten überrascht. Das Buch ist nicht wirklich neu; diese Ausgabe stammt aus dem Jahre 2019 und die Originalausgabe erschien bereits 1996, aber ich war bislang nicht darauf aufmerksam geworden.
Motiven aus dem esoterischer Bilderschatz begegnet man manchmal, ohne ihren Hintergrund zu kennen. Leonard Cohens New Skin for the Old Ceremony (1974) beispielsweise, das ich irgendwann in den 70ern gekauft hatte, zierte ein Motiv, das auf einem Holzschnitt aus dem 1550 in Frankfurt veröffentlichten Rosarium philosophorum basierte, einer bebilderten Fassung des alchemistischen Gedichts Sol und Luna. Dass es sich nicht um einen Renaissance-Porno handelte, war mir schon damals klar, nicht aber, dass der König (Sol), die Königin (Luna) und das, was sie miteinander trieben, als Gleichnisse für chemische Prozesse dienen sollten. C. G. Jung hatte diese Bilder wiederum, entgegen ihrer ursprünglichen Intention, psychologisch interpretiert, und vermittelt über sein The Psychology of the Transference (1966) war wohl Cohen darauf aufmerksam geworden. Für den US-Markt war dieses Motiv natürlich zu gewagt, weshalb die Plattenfirma den Holzschnitt dort durch ein Porträt Cohens ersetzte.
Geheimwissenschaften berufen sich meist auf uralte Traditionen, und das gilt auch für die Alchemie und die Kabbalistik. Tatsächlich gehen sie jedoch nicht auf altes ägyptisches oder jüdisches Wissen zurück, sondern entstanden, teilweise inspiriert durch Philosophen des Neuplatonismus und durch gnostische Ideen, frühestens in den ersten Jahrhunderten nach Beginn unserer Zeitrechnung, und sie entwickelten sich erst im frühen Mittelalter zur vollen Blüte. Weder kannten die alten Ägypter schon die Alchemie, noch gab man sich im alten Israel bereits kabbalistischen Spekulationen hin.
Natürlich war all das größtenteils Spinnerei, die höchstens zufällig mal zu interessanten Resultaten führte. Der Wunsch, überall Zusammenhänge zu erkennen, zwischen Metallen, Planeten, Sternbildern, Buchstaben, Farben, Tönen, göttlichen Attributen und vielem mehr, erwies sich nicht als erkenntnisfördernd. Ein brauchbares Ordnungsschema chemischer Elemente entdeckte erst Dmitri Mendelejew im 19. Jahrhundert. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit waren die ersten Ansätze wissenschaftlichen Arbeitens aber noch kaum von Esoterik und Religion zu trennen, und selbst ein Isaac Newton war beidem zugetan.
Aber obwohl die Ideen der Esoteriker ja eigentlich nur wenigen Eingeweihten offenbart werden sollten, drangen sie doch aus diesem engeren Zirkel heraus. Goethe und Joyce wurden von ihnen ebenso beeinflusst wie William Blake und Philipp Otto Runge. Und natürlich verdankt die Fantasy den Geheimwissenschaften viele Inspirationen. Ein Film wie Roman Polanskis Die neun Pforten (1999) bezieht sich ausdrücklich auf diese Tradition. Wer sich ebenfalls in die Welt der geheimen Lehren vertiefen will, findet in Alchemie & Mystik eine Fülle an Bildmaterial, und gerade genug an Erklärungen zur Bilderwelt der Esoterik, um die Bedeutung der, nun ja, hermetischen Bilder entziffern zu können.
Von der Märchen-, über die Fantasy-, Horror- und Science-Fiction-Literatur, bis hin zur Bibel, strotzen Erzählungen geradezu vor alchemistischer, kabbalistischer, astrologischer, numerologischer, mineralogischer, mythologischer… Symbolik. Und durchaus nicht nur die, die sich Esoterik und anderem Spökenkram verschrieben haben. Tolkiens „Herr der Ringe“ etwa, die weirden Geschichten von Lovecraft, Oscar Wilde, Voltaire, Stephen King… Problematisch wird es immer da, wo das als mehr als nur eine erweiterte Sprache verstanden wird, also wenn Leute glauben, dass die in diesen Zeichensystemen hergestellten Zusammenhänge der Wirklichkeit entsprechen. Als erweiterter Zeichensatz sind diese hermetischen Symboliken aber durchaus zu gebrauchen, interessant und unterhaltsam. Ohnehin gibt es viele Missverständnisse um diese Themenbereiche, denke ich. Z.B. um das sogenannte „Große Werk“. Schon Athanasius Kircher, der der Alchemie berufsbedingt eher kritisch gegenüber stand, sagte, dass es in ihr nicht darum gehe unedle Metalle in Gold zu verwandeln, sondern unedle Menschen in „Goldmenschen“. Es geht also demnach um eine Art Initiation, charakterliche Vervollkommnung, dergleichen. Nicht etwa um Wissenschaft, auch wenn es den Erfindern dieser Zeichensysteme durchaus mitunter auch darum gegangen sein mag. Es gibt übrigens einen schönen kurzen Text von Gustav Meyrinck, der auf diesem Gebiet sehr bewandert, aber auch ein begnadeter Satiriker war: „Alchemie oder Die Unerforschlichkeit“. Darin erklärt er eingangs warum das Gold machen, wenn es denn ginge, wirtschaftlich keinen Sinn machen würde. Das spanische Weltreich z.B. ist ja nicht zuletzt deshalb untergegangen, weil es seinen Markt dermaßen mit dem Gold überschwemmt hat, das man den Inka, Azteken und Maya geraubt hatte, dass das Gold kaum noch etwas wert war (Angebot und Nachfrage). Von den Begehrlichkeiten, die man damit u.a. bei den Engländern geweckt hatte, gar nicht zu reden. Nach dieser einleitenden Erklärung nun widmet sich Meyrinck ausführlich der Erklärung wie man unedle Stoffe in Gold umwandeln kann. Ob es funktioniert habe ich nicht ausprobiert. Ich bin aber sicher, dass Meyrinck beim Schreiben dieses Textes seinen Spaß hatte.
Danke für den Hinweis auf Meyrink; ich habe seinen „Golem“ und die Geschichten aus „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ gelesen, aber nicht diesen Text über die Alchemie. Der ist offenbar im Sammelband „Das Haus zur letzten Latern“ enthalten, der aber vergriffen ist.
Tatsächlich kann man mittlerweile Gold künstlich herstellen, nur ist der Aufwand zu groß, als dass es sich auch nur im Entferntesten lohnte.
Kann jetzt gerade gar nicht sagen worin der Text enthalten ist, weil der Großteil meiner Hausbibliothek, nach meinem Umzug, noch in Kartons steckt. Es gab da aber mal so eine zweibändige (glaube ich) Ausgabe mit Erzählungen und Texten von ihm, kartoniert, mit so einem fragwürdig gestalteten silbernen Cover. Ich glaube vom Moewig Verlag. Findet man relativ oft noch irgendwo im Antiquariat oder auf Flohmärkten. In einem der beiden war der Text. Es gibt auch noch andere ähnlich humorige Texte von ihm. Zum Beispiel einen in dem ein ehemaliger Student seinen alten Physik-Prof. per Auto auf dem Lande besucht. Zu Zeiten als die Automobilität noch in den Kinderschuhen steckte, wohl bemerkt. Als er diesem erzählt, dass er mit dem Auto angereist sei, entgegnet ihm dieser, dass das gar nicht sein könne, weil Autos, physikalisch gesehen, gar nicht funktionieren könnten, was er ihm ausführlich und haarklein ausführt. Als der belustigte Ex-Student wieder abreisen will springt sein Auto nicht an. Meyrinck war ein sehr interessanter Autor. Eigentlich Bankier, aber pleite gegangen, interessierte er sich sehr für allen möglichen esoterischen Kram, trat schließlich sogar zum Buddhismus über. Stilistisch schreibt er sehr bizarr volkstümelnd im balkanischen Umfeld, oft mit einem Augenzwinkern und mitunter atmosphärisch sehr dicht. Fast ähnlich dicht wie Lovecraft, nur deutlich subtiler, mit weit weniger inflationärem Einsatz von Adjektiven, so dass man sich bisweilen fragt, wo diese Atmosphäre eigentlich herkommt. „Der Golem“ ist mein Lieblingsbuch von ihm, und wohl auch sein bestes (neben ein paar Kurzgeschichten). Unglaublich atmosphärisch. Gershom Sholem kritisierte seine Interpretation des Golem-Mythos und der Kabbala allerdings als verfälschend. Leider verliert er sich auch oft sehr in esoterischem und romantischem Kitsch, finde ich, weshalb ich bei weitem nicht alles von ihm empfehlen würde. Ist allerdings schon ewig her, dass ich zuletzt etwas von ihm gelesen habe. Hoffe, dass ich hier nichts falsch wiedergebe.
„Zum Beispiel einen in dem ein ehemaliger Student seinen alten Physik-Prof. per Auto auf dem Lande besucht.“ Ja, und am Ende explodiert der Motor, und zwar auf genau die Weise, die der verschwurbelte Professor vorhergesagt hatte, was der Gipfel des Absurden ist. Herrliche Geschichte! Sie ist auch in „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ enthalten, woher ich sie kenne.
Und ja, Lovecraft und seine Adjektive sind noch ein Thema für sich. In meiner Jugend habe ich viel von Lovecraft gelesen, auch im englischen Original, aber ich merkte dann bald, dass Lovecraft doch recht unangenehm fremdenfeindlich war (er sah „Dämonen“ auf Ellis Island, wo doch eigentlich nur arme europäische Einwanderer darauf warteten, in ihr gelobtes Land gelassen zu werden), und dass er seinen Horror mit ziemlich plumpen Mitteln erzeugte, indem er verschwenderisch oft Adjektive wie „eerie“ einstreute. Dass irgendetwas unheimlich war, musste man ihm einfach glauben, und mir wurde klar, dass man seine Texte, wenn man die wertenden statt beschreibenden Adjektive strich, auch mit der Sichtweise eines neugierigen Forschers lesen konnte, woraufhin sie dann gar nicht mehr so unheimlich wirkten.
Bei Meyrink weiß man dagegen nie so recht, wie ernst er seinen Horror überhaupt nahm, und manches ist ja auch reine Satire – wie die Geschichte über die Wiener Ruderer, die in ihrem Achter zuhause im Training fabelhafte Zeiten erreichen, aber im Wettbewerb in Hamburg versagen. Natürlich lag es am schweren Alsterwasser; im Donauwasser wären sie den Hamburgern davongerudert!
Meyrinks „Golem“ leidet ein bisschen unter seinem irreführenden Titel, denn vom Golem wird ja mehr geredet, als dass er wirklich auftauchte – allenfalls einmal, und selbst da bleibt es höchst unsicher. Die Vorstellung vom Golem dient Meyrink eigentlich nur als Spielmaterial, und es geht im Roman eher darum, wie diese Legende in den Köpfen der Menschen herumspukt.
Ganz genau. Den Golem habe ich faktisch auch fast erst mal ein bisschen vermisst und fand die Kritik von Sholem schon deshalb auch ein bisschen unverständlich. Vielleicht war es auch einfach die kulturelle Aneignung, die ihn gestört hat. Es ist wirklich lange her, dass ich Meyrinck gelesen habe. Daher erinnere ich mich auch nicht mehr an viele Details. Aber beim Golem hat mich vor allem diese unglaublich dichte, traumhafte Atmosphäre fasziniert. Lovecraft mag ich eigentlich immer noch recht gern, obwohl es stimmt, das sein Rassismus wirklich ekelerregend ist. Eine der ersten Geschichten von ihm, die ich gelesen habe, war „Der Ruf des Cthulhu“, und da hat mich der Rassismus gleich so deutlich angesprungen, dass ich sehr im Zweifel war ob ich noch mehr von ihm lesen sollte. Aber alles in allem ist er, obwohl ich ihn auch stilistisch für überbewertet halte, ein hoch interessantes Phänomen. Er war ja nicht nur xenophob, sondern hatte offenbar vor der Welt da draußen generell Angst, was sich zumindest aus seinen Werken herauslesen lässt (z.B. „Arkham“) und auch sein Einsiedler-Leben, bei zugezogenen Gardinen, erklären würde. Auf der anderen Seite war er aber auch Atheist und esoterischem Blödsinn gegenüber kritisch eingestellt. Sein Cthulhu-Mythos scheint überhaupt maßgeblich auf die Theosophie abzuzielen, über die er sich sehr abfällig äußerte. Zumindest erwähnt er die Theosophie zu Beginn von „Call of Cthulhu“, später auch Helena Blavatskys „Book of Dzyan“ (wie auch in anderen Erzählungen um Cthulhu) und in „At the Mountains of Madness“ erwähnt er immer wieder den russischen Maler und Philosophen Nicholas Roerich, der auch ein bedeutender Theosoph war. Außerdem scheint die Erzählung stark an die theosophische Wurzelrassenlehre und Platons Dialoge „Kritias“ und „Timaios“ angelehnt zu sein. Also die in denen Platon von Atlantis erzählt. Poes „Gordon Pym“, ist da eher schon fast nebensächlich, würde ich sagen, obwohl der natürlich auch mehrmals erwähnt wird. Und es gab auch einige Brüche im Charakter Lovecrafts. So war er ja auch Antisemit, aber trotzdem mit einer Jüdin verheiratet und unterstützte den jungen Robert Bloch („Psycho“), der auch Jude war, als väterlicher Mentor. Das macht Lovecraft schon irgendwie interessant. Auch wenn man seine Erzählungen als Fenster in die Psyche eines Xenophobikers betrachtet. Außer seinem inflationären Hang zu Adjektiven finde ich übrigens auch seinen Hang zu Superlativen oft unfreiwillig komisch, seine Versuche das vorher erzeugte Grauen immer noch mal wieder zu übertreffen, wie mustergültig auch in „At the Mountains of Madness“, wo er am Schluss hinter den irre hohen antarktischen Bergen – Surprise Surprise – in der Ferne nochmal irre viel höhere erblickt. Trotzdem haben einige seiner Erzählungen ihren Reiz. Und es gibt sogar tatsächlich viele Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass es das Necronomicon wirklich gibt, und lassen sich auch nicht davon abbringen. So was muss man erst mal hinkriegen.