Schriften im städtischen Umfeld sieht man tagtäglich (wenn man sie nicht einfach übersieht): Über Schaufenstern, auf Anzeigetafeln, Neonreklamen oder als Graffiti. So ist es eigentlich eine gute Idee, sie einmal als „typografische Inspirationen“ zu verstehen. Sabine Herbst hat das zum Thema ihres Buches gemacht und viele dieser Alphabete rekonstruiert.
Man kann, das sei gleich vorausgeschickt, einem Buch oder seiner Verfasserin keinen Vorwurf machen, weil man selbst als Leser und Grafiker andere Werkzeuge als die beschriebenen einsetzt oder andere Schwerpunkte setzen würde. Schließlich steht auf dem Cover gut lesbar „Mit zahlreichen Beispielen und Alphabeten für eigene Handletterings“. Auch das Inhaltsverzeichnis ist da ganz klar: Die drei Kapitel heißen „Schrift zeichnen“, „Schrift schreiben“ und „Schrift malen“. Die Rede ist also von Stiften, Federn oder Pinseln – nicht von Pixeln oder Vektoren.
Es ist das gute Recht von Autorin und Anwenderinnen, etwa eine erhabene Schrift mit Grat aufwendig mit Bleistift und Lineal zu konstruieren. Niemand muss dafür Photoshops Ebenenstil „Abgeflachte Kante und Relief“ bemühen oder – für eine perspektivische Ansicht – eine 3D-Extrusion mit entsprechendem Kantenprofil. Dennoch stellt sich die Frage, wer die Zielgruppe eines solchen Buches ist. Der Umschlagtext beschreibt sie als „alle, die sich für Handlettering, Typografie und den kreativen Umgang mit Schrift interessieren und dafür neue Inspirationen im städtischen Umfeld suchen“. Ich weiß nicht, wie groß die Gruppe derer ist, die dafür traditionelle Werkzeuge auf Papier nutzt, statt mit Maus oder Grafiktablett am Monitor in weit kürzerer Zeit weit bessere Ergebnisse zu erzielen. Unter denen, die damit Geld verdienen und es professionell machen, wahrscheinlich nicht allzu viele.
Das Konzept von Sabine Herbst sieht so aus: Sie hat sich im erwähnten städtischen Umfeld Beispiele für Alltagstypographie gesucht, die ihr gut gefallen, die Schriften analysiert und dann aus den verfügbaren Buchstaben die kompletten Alphabete rekonstruiert. Das ist eine gute Idee und hilft vor allem Typo-Laien, solche Schriften für eigene Zwecke einzusetzen. Denn Herbst ergänzt ihre Schriftbeispiele um Varianten und Tipps, worauf man formal achten sollte.
Auch wenn sich alle Hinweise auf die Umsetzung mit herkömmlichen Werkzeugen beziehen, ist es mit etwas Phantasie durchaus möglich, daraus Nutzanwendungen für den Einsatz mit pixel- oder vektororientierten Programmen zu ziehen.
Allerdings kann man dem Buch einen anderen Vorwurf nicht ersparen, und der hängt nicht mit Werkzeugen und Herstellungstechniken zusammen, sondern mit den Schriftbeispielen. Gerade bei einer Titelgebung wie „Urban Lettering“ dürfen die Leser erwarten, dass ihnen Schriftbeispiele aus dem heutigen städtischen Umfeld präsentiert werden und nicht solche, die ein halbes Jahrhundert alt sind. Ich habe zwar selbst durchaus nostalgische Vorlieben und finde viele alte Typo-Beispiele wesentlich charmanter als zeitgenössische. Aber ein Titel weckt Erwartungen und sollte sie auch erfüllen. Noch dazu, wenn dort ausdrücklich auf die „Großstadt“ verwiesen wird und nicht eine abgelegene und halb entvölkerte Kleinstadt im Osten der Republik als Beispielgeber dient.
Die kreativsten Schriften im städtischen Kontext sind wahrscheinlich solche von Graffiti, wobei der weit überwiegende Teil von ihnen formal und ästhetisch belangloses Geschmiere beziehungsweise Gespraye ist. Aber es gibt hervorragende Beispiele, die gute Gestaltung mit Lesbarkeit verbinden (tolle Formen allein, die keine erkennbare Textbotschaft vermitteln, sind typographisch belanglos, was im übrigen nicht nur Graffiti betrifft, sondern auch inzwischen zum Glück überwundene, aber seinerzeit hochgelobte „Schriften“ wie etwa die von Neville Brody).
Graffiti-Typo macht im Buch aber gerade mal 6 Seiten aus. Ein anderer prominenter Bereich urbaner Typographie kommt gar nicht vor: Neon-Schriften. Klar, Leuchteffekte sind manuell nur mühsam zu erzeugen. Auch hier dürfte jede mit Stift und Pinsel Bewaffnete neidvoll auf die Kolleginnen am Monitor blicken, die mit einem Klick auf Photoshops Ebenenstile eine Schrift zum Leuchten bringen und, wenn sie mit dem Ergebnis unzufrieden sind, mit einem Handgriff Farbe oder Leuchtwirkung ändern können. Stattdessen gibt es jede Menge Hand- und Schreibschriften, die man so im heutigen Stadtbild sicherlich nur nach ausgiebigem Suchen entdecken würde und die kaum jemand als „Urban Lettering“ erwarten würde.
Fazit: Eine gute Idee, eingeschränkt durchaus nutzbar, mit ein wenig Phantasie auch für Digitalgrafiker anzuwenden – von der Auswahl der Beispiele her allerdings für eine typographische Belebung aktueller städtischer Szenen praktisch kaum einsetzbar.
Sabine Herbst: Urban Lettering. Typografische Inspirationen & Schriften aus der Großstadt; mitp Verlag 2021, broschiert, 140 Seiten, 19 × 26 cm, durchgehend mit vielen farbigen Beispielen bebildert, 24,99 €